27.06.2010

Warum wir nicht von "primitiven" Merkmalen sprechen sollten.

Wenn man sich mit Evolutionsbiologie bzw. Kladistik, auseinandersetzt so begegnet einem, vor allem in der englischsprachigen Literatur, das Wort „primitiv“ wenn es um die Einstufung von Merkmalszuständen geht.

Mit einem primitiven Merkmal ist ein Merkmal gemeint, dass sich in der Stammesgeschichte einer Tiergruppe relativ früh herausgebildet hat. Zum Beispiel könnte man sagen, dass unsere Fingernägel „primitive“ Merkmale seien, da sie bereits sehr früh in der Evolution der Primaten aufgetaucht sind. Nun ist das was wir im Alltag unter „primitiv“ verstehen nicht exakt das gleiche wie das was man in der Kladistik darunter versteht.


Wenn wir zum Beispiel von einer „primitiven Kultur“ sprechen, dann wird damit in aller Regel gemeint, dass diese Kultur, im Vergleich beispielsweise zu unserer, nicht so weit entwickelt ist. „Primitiv“ im Alltagsgebrauch wird also häufig mit Wörtern wie „veraltet“ oder „unterentwickelt“ assoziiert.
Nun sind „primitive“ Merkmale in der Biologie nicht unterentwickelt sondern sie stellen lediglich den ursprünglichen Merkmalszustand dieser Tiergruppe dar. Unsere Fingernägel sind beispielsweise hoch spezialisierte Strukturen ohne die wir im Grunde genommen nicht wirklich gut greifen könnten.
Außerdem hängt die Klassifikation eines Merkmalszustandes stark vom Kontext ab in dem ich es betrachte. Betrachte ich alle Primaten so repräsentieren die Fingernägel den „primitiven“ Merkmalszustand wohingegen die Krallen der Krallenaffen den abgeleiteten Zustand entsprechen. Betrachte ich jetzt alle Säugetiere, so ist das Vorhandensein von Krallen der „primitive“ Merkmalszustand, da die ersten Säugetiere Krallen hatten, Nägel wiederum wären in diesem Falle abgeleitet. Übrigens, die "Krallen" der Krallenaffen bestehen aus anderen Strukturen als die "primitive" Säugetierkralle.


Wie man sieht, gibt es große Unterschiede in der Art und Weise, wie man im Alltag den Begriff „primitiv“ benutzt und wie er in der Wissenschaft verwendet wird.
Das war zu Beginn der Stammesgeschichtlichen Forschung noch nicht so ausgeprägt. Vom Anfang bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts herrschte häufig die Annahme in der Evolutionsbiologie vor, dass die Evolution in einer Art Stufenleiter von einfachen (primitiven) Organismen hin zu mehr komplexen Formen abgelaufen ist. Häufig stand am Ende dieser Leiter der Mensch.
Diese Annahme ist jedoch falsch, da jedes Lebewesen, von der Entstehung des Lebens bis hin zum jetzigen Zeitpunkt die gleiche lange Zeit vergangen ist. Jedes Lebewesen ist demnach an die Bedingungen angepasst in der es heutzutage lebt. Wenn ein Lebewesen in irgendeiner Form „unterentwickelt“ oder „ineffizient“ im Vergleich zu seinen Konkurrenten wäre, würde es ganz einfach nicht existieren.

Wie man sehen kann, wird mittlerweile der Begriff „primitiv“ in einem anderen Kontext benutzt als zu Beginn. Die alltagsprachlichen Assoziationen bleiben jedoch bestehen.
Wenn ich mich jetzt als Wissenschaftler in der Öffentlichkeit bewege, und das tut man als Paläoanthropologe ab und an mal, so kann die Verwendung des Begriffes „primitiv“ in der Öffentlichkeit zu einem ganz anderen Bild des Sachverhalts führen, als wenn ich vor Kollegen über „primitive“ Merkmale spreche. Und wenn es etwas gibt, was man als Evolutionsbiologe in der Öffentlichkeit nicht machen sollte, dann sind es durch eine unglückliche Begriffswahl erzeugte Missverständnisse. Die könnten nämlich von diversen pseudo-wissenschaftlich/religiösen Gruppierungen benutzt werden.

Ich denke, die Zeiten der "scala naturae" in der Evolutionsbiologie sind vorbei, also sollten wir langsam dazu übergehen auch ihre Begriffe zu begraben.Aus diesem Grunde wäre es vielleicht angebracht, nicht mehr von "primitiven" sondern von „ursprünglichen“ Merkmalen zu sprechen. Auf diese Art und Weise kann man eine große Anzahl Missverständnisse vermeiden ohne vorher ewig lang über die Bedeutung von Begriffen referieren.