09.12.2010

Was wurde eigentlich aus Sahelanthropus tchadensis? (Teil 2: Schlussfolgerungen)

Ich habe meinen letzten längeren Post  ja etwas kryptisch beendet und habe deshalb noch ein paar Erklärungen nachzuholen.


Schauen wir uns hierzu zunächst folgende Abbildung an:

Zeitliche Einordnung der frühsten möglichen Hominidenformen. Das rote Oval zeigt den molekulargenetisch Bestimmten Zeitraum der Divergenz von Mensch und Schimpanse an. (Die Striche stehen für jeweils 2 Mio. Jahre). (Bilder aus Johanson & Edgar, 2006 u. Suwa et al., 2009)


Wir sehen hier eine Zeitleiste mit den frühsten möglichen Hominiden (außer Ar. ramidus kaddaba), das Oval kennzeichnet den Zeitraum der von der Molekulargenetik als der Zeitraum bestimmt in dem sich die Linien von Mensch und Schimpanse getrennt haben. Was wir hier sehr schön sehen können, ist dass diese drei Fossilien, mehr oder weniger, voll in diesem Zeitraum drin liegen.
Das ist zunächst einmal toll, denn wir sind auf jeden Fall in der Region wo sich die Linien von Mensch und Schimpanse getrennt haben und damit auch sehr nah am letzten gemeinsamen Vorfahren (LGV). Das bedeutet auch, dass diese frühen Formen in ihrer Morphologie diesem letzten gemeinsamen Vorfahren sehr ähnlich sein dürften. Dieser Punkt macht die taxonomische Einordnung dieser Fossilien jedoch enorm schwierig. Wie ich hier dargestellt habe, besitzen ursprüngliche Merkmale keinen Wert, wenn es darum geht einen Organismus taxonomisch einordnen zu können. Wenn ich jetzt, wie in dem Fall von Sahelanthropus, ein Fossil habe, was möglicherweise dem LGV sehr ähnlich war, so bedeutet dies, dass es noch viele ursprüngliche Merkmale mit diesem gemeinsam hat und sehr wahrscheinlich nur wenige abgeleitete Merkmale haben dürfte die für eine taxonomische Einordnung von Bedeutung sind. Das Bedeutet, dass ich sehr wahrscheinlich nur ganz schwer in der Lage bin, dieses Fossil überhaupt irgendwo einordnen zu können:

Das Problem der taxonomischen Einordnung der frühsten möglichen Hominiden: Es ist praktisch unmöglich sicher sagen zu können, ob sich ein Fossil auf der Stammlinie zum Menschen (A), auf der Stammlinie zum Schimpansen (B), kurz vor der Trennung von Mensch und Schimpanse (C), oder gar auf der Stammlinie zum Gorilla (wie es z.B. für Sahelanthropus tchadensis teilweise angenommen wird) (D) befindet.


Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Cobb (2008) als er versuchte die Morphologie des Gesichtsschädels de LGV zu rekonstruieren:

„(...)  it is not possible to determine with any confidence whether any of them is the LCA , or a stem taxon in either lineage, or a member of an extinct, and until now unrecognized, hominid lineage.” (Cobb, 2008; S.482).


Das bedeutet, wenn wir uns das alles ganz nüchtern betrachten, dass wir uns über keine dieser Formen sicher sein können, dass sie tatsächlich auf der Stammlinie zum Menschen stehen.

Und nun kommen wir endlich zum eigentlich Sinn des Posts: Wir mögen zwar nicht mit Sicherheit sagen können, wo genau wir diese Fossilen jetzt taxonomisch einordnen können, doch helfen sie uns auf jeden Fall dabei, den Zeitraum um die Trennung der Linien von Mensch und Schimpanse besser auflösen zu können. Sie helfen mir, die Morphologie des LGV besser rekonstruieren zu können, die helfen mir besser die ursprüngliche ökologische Nische der Hominiden besser rekonstruieren zu können und sie helfen mir besser zu verstehen, welche Bedingungen letztendlich zur Aufspaltung der Linien von Mensch und Schimpanse geführt haben könnten.
Natürlich mag es erstmal nicht so spektakulär klingen, wenn ich ein Fossil beschreibe und am Ende den Schluss ziehe „es ist zwar Hominidenähnlich, aber irgendwo sind wir uns da nicht so sicher“, doch würde eine solche Schlussfolgerung vermutlich viel eher der Wahrheit entsprechen.


Das alles mag sich jetzt nicht wirklich optimistisch anhören, aber wir können diese Problematik auf jeden Fall etwas entschärfen, wenn endlich mal irgendwelche nennenswerten Fossilien möglicher Schimpansen- und Gorillavorläufer gefunden würden.
Wir wissen im Grunde genommen nichts über die Evolution der Schimpansen und Gorillas, ganz im Gegenteil zu dem was wir über die Evolution unserer eigenen Art wissen (bzw. meinen zu wissen).
Dieser Punkt wird in aller Regel damit abgetan, dass sich in Regenwäldern (dem gewöhnlichen Habitat von Schimpansen und Gorillas) kaum Fossilien erhalten. Das mag zwar richtig sein, aber es wurde bislang ja kein ernsthafter Versuch unternommen trotzdem welche zu finden.
Wir haben deshalb so gute fossile Aufzeichnungen unserer eigenen Stammlinie, weil es in den letzten 40 Jahren riesige Anstrengungen gab, neue Fossilien zu finden. Hätte es diese Anstrengungen nicht gegeben, hätten wir heute auch nicht diese ganzen Fossilien. Das bedeutet im Gegenzug auch, dass ich, wenn ich nicht nach Gorilla- und Schimpansenfossilien suche, sehr wahrscheinlich auch kaum welche finden werde.

Esteban Sarmiento  (2010 S.1105b ) hat dies in ihrer Kritik an Ardipithecus ramidus etwas spitzfindiger ausgedrückt:


“ (...)it is curious that in a century-old race for superlative hominid fossils on a continent currently populated with African apes, we consistently unearth nearly complete hominid ancestors and have yet to recognize even a small fragment of a bona fide chimpanzee or gorilla ancestor.”


Ich persönlich würde einen fossilen Schimpansen übrigens wesentlich spektakulärer finden als den nächsten bahnbrechenden Superhominiden. Aber gut, letztendlich wäre es ja schließlich doch "nur ein Affe".

Aber sind wir das nicht auch?


Literatur:

Cobb, S. (2008). The facial skeleton of the chimpanzee-human last common ancestor Journal of Anatomy, 212 (4), 469-485 DOI: 10.1111/j.1469-7580.2008.00866.xSarmiento, E. (2010). Comment on the Paleobiology and Classification of Ardipithecus ramidus Science, 328 (5982), 1105-1105 DOI: 10.1126/science.1184148

Bildquellen:

Johanson D., Edgar, B. (2006). From Lucy to language. Simon and Schuster, New York

Suwa G., et al. (2009). The Ardipithecus ramidus Skull and Its Iimplications for Hominid Origins. Science 326, 68.


Da könnste grad verrückt werden...

Ich muss zugeben, ich habe lange nicht mehr so einen Quatsch gesehen:


http://lifestyle.de.msn.com/mensgreatest/lust-beziehung/macho-box/bilder.aspx?cp-documentid=155458837


Ich hab mir das Ding nicht durchgelesen, weil ich schon nach den ersten zwei Absätzen einen Wutanfall epischsten Ausmaßes bekommen habe, daher nur ganz kurz warum der Kram Blödsinn ist:

-Der moderne Mensch stammt nicht vom Neandertaler ab
-Der Neandertaler war kein tumber Idiot der dummdämlich grunzend durch die eiszeitliche Steppe gelaufen ist
-Evolutionäre Psychologie (der Kram auf den sich diese Texte berufen) ist zu 95% Blödsinn und in keinster Weise überprüfbar.


John Hawks hat in seinem Blog die Rubirk "Neandertal anti-defamation files", vielleicht sollte ich so etwas auch hier einführen.

08.12.2010

"Der Grad der Übereinstimmung der von der theoretischen Erkenntnis rekonstruierten Welt mit der wirklichen Welt bleibt uns unbekannt, auch dann, wenn er vollkommen ist."
(aus: Vollmer G. (1975).  Evolutionäre Erkenntnistheorie. Hirzel, Stuttgart, Leipzig. S. 137.)




Soviel zum Thema, dass es "Tatsachen" und "Fakten" gibt.

26.11.2010

Was wurde eigentlich aus Sahelanthropus tchadensis? (Teil 1: Beschreibung und Kritik)

Das ist eine wirklich gute Frage, schließlich liefert diese Art doch ein enormes Packet an spannenden Geschichten mit über die sich so vortrefflich diskutieren ließe, dass es wirklich einer Schande gleichkäme, wenn man dies nicht täte.


Fangen wir mit dem Fundort an. Anders als die meisten frühsten Hominidenformen (und Sahelanthropus ist bei weitestem die frühste von allen), ist diese Art nicht im Dunstkreis des Ostafrikanischen Grabenbruchs gefunden worden, sondern gute 2500 km westlich davon im Tschad. Diese simple Fakt, dürfte ziemlich viele Hypothesen über den Ursprung der Hominiden über den Haufen werfen, wenn, ja wenn Sahelanthropus denn auch wirklich ein Hominide ist.
Denn genau hier liegt das Problem, ein Problem was ich in einem meiner ersten Blogposts bereits aufgegriffen habe. Da mir dieser Post allerdings nicht mehr gefällt, werde ich an dieser Stelle nochmals etwas detailliert auf diese Geschichte eingehen.
Im Grunde genommen fußt Einordnung von Sahelanthropus zu den Hominiden auf zwei Säulen:

Der Morphologie und die Abnutzung des Eckzahns.

Der Annahme einer aufrechten Körperhaltung.



Schauen wir uns zunächst die Zähne an, bzw. den Eckzahn an:

Unterer rechter Eckzahn von Sahelanthropus tchadensis. (Brunet et al., 2005)
Ok, was ist jetzt so besonders an dem Teil? Nun, für einen Menschenaffen ist das Ding ziemlich klein. Wenn wir uns z.B. Schimpansen ansehen, dann sehen wir dort Eckzähne die die umliegenden Zähne um ein Vielfaches überragen. Charakteristisch für solch große Zähne ist ein so genannter „Zangenbiss“. Was das bedeutet, kann man auf dem folgenden Bild sehen:

 Henke &Rothe, 1994

Jedenfalls fehlen bei Sahelanthropus die Anzeichen für einen solchen Komplex, zudem sind die Eckzähne grundsätzlich relativ klein und ihr Abnutzungsmuster unterscheidet sich auch von dem heutiger Menschenaffen. Ein weiteres Indiz für die Annahme das Sahelanthropus ein Hominider ist, findet sich in der dicke des Zahnschmelzes, die genau zwischen der von heutigen Schimpansen und der von späteren Australopithecinen liegt.


Wie sieht’s mit der aufrechten Körperhaltung aus? Das Problem an der Sache ist, dass man keine Postkranialen Knochen gefunden hat, also keine Becken oder Oberschenkelfragmente, von denen man diese Sachen direkt ablesen könnte. Allerdings war man in der Lage man von der Orientierung und dem Winkel den das große Hinterhauptsloch (Foramen magnum), im Schädel einnimmt abschätzen, dass es wohl wahrscheinlicher gewesen ist, das Sahelanthropus aufrecht gegangen ist, als das er es nicht getan hat.

Winkel des Formamen magnum zur Augenhöhle. Nach Meinung der Autoren soll dieser ein Indiz für die Körperhaltung eines Individuums gewesen sein. (Zollikofer et al., 2005)
Hört sich doch soweit ganz gut an, Sahelanthropus ging wahrscheinlich aufrecht und auch in anderen Merkmalen unterscheidet er sich ziemlich stark vom Schimpansen.


Doch sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass die Evolution des Menschen keine Stufenleiter von einem Schimpansen über mehrere weitere „Zwischenformen“ hin zu uns verlief und das deshalb rezente Arten nur bedingt als direkte Vorbilder dienen können.
Außerdem habe ich bei der ganzen Beschreibung noch einen wichtigen Punkt bislang nicht erwähnt. Sahelanthropus soll männlich gewesen sein. Dies wurde aus dem ziemlich dicken Überaugenwulst (Torus supraorbitalis) geschlossen, den das Fossil aufweist.
Was ist an diesem Punkt so wichtig, mag man sich fragen? Nun, wenn wir uns die Eckzähne ansehen, so sind sie klein, für ein männliches Individuum. Wäre Sahelanthropus weiblich so läge die Größe des Eckzahns so ziemlich in dem Bereich den man auch bei anderen weiblichen fossilen Menschenaffen beobachten konnte.

Wie wir also sehen können ruhen 50% der Annahme, dass Sahelanthropus tchadensis ein Hominide auf der Bestimmung seines Geschlechts. Da wir bislang leider nur einen Schädel von Sahelanthropus kennen, wissen wir nicht wie stark die Größe des Torus supraorbitalis geschwankt hat, also sollte wir, um abschätzen zu können wie gut sich dieses Merkmal eignet um eine Geschlechtsbestimmung durchführen zu können, mal ansehen wie sich der Kram bei rezenten Menschenaffen verhält:

 

Breite des Torus supraorbitalis bei rezenten Menschenaffen, Australopithecinen und Sahelanthropus tchadensis. (Brunet et al., 2002; modifiziert)


Das sieht irgendwie nicht so gut aus. Selbst bei so stark sexualdimorphen Arten wie dem Gorilla, überlappt die Größe des Torus supraorbitalis bei Männchen und Weibchen ziemlich stark. Das bedeutet im Gegenzug, dass dieses Merkmal im Grunde für eine Geschlechtsbestimmung an einem einzelnen Individuum bei einem komplett neuen Taxon vollkommen ungeeignet ist.


Dies war auch der Schluss, den Milford Wolpoff und Kollegen 2006 in ihrer ausführlichen Kritik der Sahelanthropus Zuordnung gezogen haben (Der Artikel ist übrigens frei verfügbar).
Im weiteren Verlauf des Artikels zeigen sie, in meinen Augen recht überzeugend, Stück für Stück auf, dass keines der ursprünglich zu Klassifikation von Sahelanthropus herangezogenen Merkmale tatsächlich Aussagekräftig ist. Entweder sind die Merkmale ursprünglich (bei einigen miozänen Menschenaffen finden sich ähnliche Abnutzungsmuster der Eckzähne und auch ein Zangenbiss ist nicht vorhanden), oder sie sind höchst Zweifelhaft (Orientierung des Foramen magnum).

Das war übrigens nicht der erste Anlauf von Wolpoff und seinen Kollegen. Bereits kurz nach der Beschreibung von Sahelanthropus veröffentlichten sie einen Kommentar in Nature der die ursprüngliche Interpretation kritisierte. Dieser wurde, auch relativ überzeugend von Michel Brunet beantwortet. Es wäre also zu erwarten, dass auf diese wirklich fundamentale Kritik eine ebenso fundamentale Antwort folgt, nicht wahr?
Bislang habe ich folgendes dazu gefunden, ich zitiere wörtlich:


„Scientifically it is impossible to understand why some authors ignore these derived characters and concentrate on primitive ones to reach the conclusion that S. tchadensis is related to modern apes and even more precisely to a palaeogorilla (Wolpoff et al. 2002, 2006; Pickford 2005). This attempt to undermine the clear affinity of the Chadian hominid is curious mainly when it is coming from, among others, two who have not yet had the opportunity to check Toumaı¨ casts in their laboratory. Is it what they believe, or is it only because they want to keep Orrorin as the earliest hominid?" (Brunet, 2010, S.3318)


Also irgendwo ist das doch etwas enttäuschend oder? Es ist vor allem deshalb enttäuschend, weil Herr Brunet in dem Artikel aus dem dieses Zitat stammt, kurz vorher die gleichen, angeblich abgeleiteten, Merkmale erwähnt hat, die Wolpoff und Kollegen kritisiert haben. Und statt sich die Mühe zu machen, die Kritik wissenschaftlich zu beantworten wird auf die Tatsache hingewiesen, dass zwei der fünf „Kritiker“ an der Beschreibung des nächsten Kandidaten für den Titel „frühster bekannter Hominider“ beteiligt waren.


Dies, werte Leser, ist keine Antwort, dies ist der Kindergarten der sich „Paläoanthropologie“ nennt. Man könnte Herrn Brunet genauso Selbstzweck unterstellen wie Martin Pickford und Brigitte Senut (die beiden Autoren um die es geht), denn schließlich hat er eine Menge Zeit und Engagement in seine Grabungsexpeditionen im Tschad investiert und Geld gibt es sicher auch reichlich, wenn man ein solches Fossil findet.


Es ist schwierig in diesem Zusammenhang von einer Debatte zu sprechen, wenn eine Fraktion dieser Debatte anscheinend kein Interesse daran hat sie weiterzuführen. Und so lange nichts Neues bekannt wird, bin ich der Meinung man sollte Sahelanthropus aus den Hominiden ausschließen.
Das bedeutet noch lange nicht, dass das Fossil dann seinen wissenschaftlichen Wert verliert. Was ich genau damit meine, werde ich in meinem nächsten Post darlegen.


Literatur:
Brunet, M., Guy, F., Pilbeam, D., Lieberman, D., Likius, A., Mackaye, H., Ponce de León, M., Zollikofer, C., & Vignaud, P. (2005). New material of the earliest hominid from the Upper Miocene of Chad Nature, 434 (7034), 752-755 DOI: 10.1038/nature03392
Brunet, M., Guy, F., Pilbeam, D., Mackaye, H., Likius, A., Ahounta, D., Beauvilain, A., Blondel, C., Bocherens, H., Boisserie, J., De Bonis, L., Coppens, Y., Dejax, J., Denys, C., Duringer, P., Eisenmann, V., Fanone, G., Fronty, P., Geraads, D., Lehmann, T., Lihoreau, F., Louchart, A., Mahamat, A., Merceron, G., Mouchelin, G., Otero, O., Campomanes, P., De Leon, M., Rage, J., Sapanet, M., Schuster, M., Sudre, J., Tassy, P., Valentin, X., Vignaud, P., Viriot, L., Zazzo, A., &Zollikofer, C. (2002). A new hominid from the Upper Miocene of Chad, Central Africa Nature, 418 (6894), 145-151 DOI: 10.1038/nature00879
Brunet, M. (2010). Two new Mio-Pliocene Chadian hominids enlighten Charles Darwin's 1871 prediction Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 365 (1556), 3315-3321 DOI: 10.1098/rstb.2010.0069
Henke, W., Rothe, H. (1994). Paläoanthropologie. Springer Verlag, Berling Heidelberg, New York
Wolpoff, M. H., Hawks, J., Senut, B., Pickford, M., & Ahern, J. (2006). An Ape or the Ape: Is the Toumaï Cranium TM 266 a Hominid? Paleoanthropology, 36-50
Zollikofer, C., Ponce de León, M., Lieberman, D., Guy, F., Pilbeam, D., Likius, A., Mackaye, H., Vignaud, P., & Brunet, M. (2005). Virtual cranial reconstruction of Sahelanthropus tchadensis Nature, 434 (7034), 755-759 DOI: 10.1038/nature03397

11.11.2010

Ich muss mal etwas pöbeln.

Ich hatte letzten Dienstag das zweifelhafte Privileg mir einen Vortrag von Ulrich Kutschera (Titel: „Tatsache Evolution, was Darwin noch nicht wusste“) anzuhören. Naja, es war eigentlich kein Vortrag, sondern vielmehr eine Predigt. Eine Predigt, die gefühlt alle zwei Minuten entweder mit einem Verweis des Predigers auf irgendeinen von ihm verfassten Nature/Science Artikel oder auf die Tätigkeiten des Predigers als Gastdozent an der Stanfort University unterbrochen wurde.



Abgesehen von diesen nar(r)zistischen Ausflügen des Predigers ging es in der Predigt um einen ziemlichen Rundumschlag über die Evolutionstheorie und darum, was Darwin denn noch so abseits seiner „Entstehung der Arten“ so geschrieben hat.
Ich will mich jetzt nicht mit allen Details aufhalten, kurz gesagt: Es war furchtbar, vom Anfang bis zum Ende.


Nicht nur, dass Herr Kutschera einen, in meinen Augen, furchtbaren Vortragstil hatte inklusive eines Egos, dass zwei Drittel des Raumes einzunehmen schien und er zudem auch noch ziemlich arrogant auf die Publikumsfragen geantwortet hat, nein er hat auch noch fachliche Fehler begangen.


So sprach er beispielsweise immer wieder von „fossilen Zwischenformen“. Fossile Zwischenformen, oder „missing links“ wie man sie auch nennen könnte, gibt es nicht. Die Annahme, dass es fossile Zwischenformen auf den, zu den rezenten Arten führenden Stammlinien gibt, würde eine bestimmte Art von „Richtung“ in der Evolution implizieren. Doch habe ich ja zu Beginn dieser Woche gezeigt, dass es eben das neue an der Evolutionstheorie ist, dass es in der Natur keine Richtung und kein Ziel gibt. Jedes Fossil was wir finden ist keine „Zwischenform“ sondern ein, an bestimmte Bedingungen in der Vergangenheit angepasstes, Lebewesen. Alles was wir heutzutage feststellen können ist wie nahe verwandt, d.h. wie ähnlich diese fossilen Arten heutzutage lebenden Arten sind.

Ein weiterer Punkt der mich jetzt von anthropologischer Seite her aufregt ist, dass er behauptet hat, dass sich der Mensch aus einer „Schimpansenähnlichen Vorläuferart“ herausgebildet habe.
Irgendwie scheinen Personen, die versuchen Evolutionstheorie einem breiteren Publikum erklären zu wollen, immer die Stellen wo es um die Evolution des Menschen geht, nicht vernünftig darstellen zu können. Fakt ist, wir wissen nicht, wie der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse ausgesehen hat. Wenn wir uns Ardipithecus ramidus ansehen, so erscheint es sehr wahrscheinlich, dass er überhaupt nicht wie ein Schimpanse ausgesehen hat. Klar ist Ardipithecus noch etwas umstritten, aber einfach anzunehmen, der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse sei „schimpansenähnlich“ impliziert wieder eine gewisse Form von Richtungs- bzw. Fortschrittsdenken, was so nicht in der Natur vorhanden ist.


Ein weiterer Punkt der mich massiv stört, ist das Wort „Tatsache“ in dem Titel des Vortrags (ein, nicht wirklich gutes, Buch von ihm trägt übrigens den gleichen Titel). Es gibt in den Naturwissenschaften keine „Tatsachen“, es gibt Hypothesen und Theorien, die mehr oder weniger gut gestützt sind. Warum gibt es keine Tatsachen? Weil ich mir niemals sicher sein kann ob das, was ich bislang herausgefunden habe, auch tatsächlich wahr ist. Die einzige Möglichkeit die ich habe, herauszufinden, ob etwas nicht stimmt, ist es zu widerlegen. Wenn ich jetzt aber behaupte eine wissenschaftliche Theorie entspräche einer Tatsache, so schließe ich von vorneherein jegliche Möglichkeit der Falsifikation aus und mache aus der Theorie im Grunde genommen eine Ideologie. Dies sind alles Dinge die man lernt, wenn man sich ein kleines bisschen mit Wissenschafts- und Erkenntnistheorie auseinandersetzt.

Ulrich Kutschera ist, soweit ich weiß, das lauteste Sprachrohr gegen den Kreationismus in Deutschland. Nur geht er bei dieser Sache komplett falsch vor. Statt zu versuchen Verständnis zu wecken, was die Evolutionstheorie eigentlich aussagt, versucht er Leute ideologisch zu indoktrinieren. Was er dabei ignoriert, ist dass ein solches vorgehen seinen „Gegnern“ voll in die Hände spielt. Häufig wird ja von Vertretern des „Intelligent Design“ behauptet, Evolutionsbiologie seien „dogmatisch“ und würden alternative „Theorien“ unterdrücken. Wenn jetzt Herr Kutschera mit seinem Buch/Vortragstitel „Tatsache Evolution“ durch die Lande tingelt, so gibt er genau diese Leuten recht!
Und wenn ich dann auch noch, wie Herr Kutschera, so arrogant bin und (sinngemäß) behaupte, dass Religionen für Leute Sinn machen, die so eher auf der Versagerseite des Lebens stehen, dann brauch ich mich nicht zu wundern, wenn ich am Ende das genaue Gegenteil von dem erreiche, was ich eigentlich möchte.

Kurzum, man sollte Evolutiontheorie "lehren" und nicht "predigen".



So, jetzt geht es mir wieder besser.


09.11.2010

Teleologie und Teleonomie

Wenn wir uns unsere Alltagsgegenstände betrachten, so ist relativ offensichtlich, dass diese in irgendeiner Form Zweckmäßig sind. Der Stuhl hat den Zweck, dass man sich auf ihn setzt und dementsprechend konstruiert. Eine Schere hat den Zweck Dinge zu schneiden und sofern man sie in der richtigen Hand hält (wie ich als Linkshänder schon früh gelernt habe) ist sie auch dafür konstruiert.



Betrachten wir uns lebende Organismen so scheint uns auch hier die Zweckmäßigkeit ins Gesicht zu springen: Der Herz ist dazu da um Blut zu pumpen, und das kriegt es auch in aller Regel hin. unser Becken ist für eine optimale Lastverteilung auf unsere zwei Beine ausgelegt usw. usf. All unsere Organe scheinen so aufeinander abgestimmt zu sein, dass auf dem ersten Blick an den heute vielgescholtenen Argumenten von Kreationisten und anderen Kreisen doch etwas dran zu sein scheint.
Und in der Tat, waren teleologische Weltbilder, also Weltbilder die von einer äußeren, immateriellen Zweckmäßigkeit der Natur ausgingen, lange Zeit kaum anfechtbar.


Kleine Information am Rande: Interessanterweise gab es im späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert eine geistige Strömung (die sog. „Physikotheologie“) die vom heutigen „Intelligent Design“ kaum zu unterscheiden ist.


Es gab zwar bereits im frühen 19. Jahrhundert Versuche von Materialisten und Naturwissenschaftlern, teleologische Welt- und Naturbilder zu widerlegen, aber mit Ausnahme von Kant, dem dies auf geisteswissenschaftlicher Ebene in seinem Buch „Kritik der Urteilskraft“ gelang, waren diese Erklärungsversuche noch zu schwach. Es gab einfach kein Modell, was diese scheinbare Zweckmäßigkeit der Natur erklären konnte, ohne dabei auf irgendwelche äußeren Einflüsse zurückgreifen zu müssen.


Dies änderte sich erst, nachdem Darwins „Entstehung der Arten“ erschienen ist. Statt irgendeines intelligenten Schöpfergottes oder irgendwelchen Vorstellungen, die Natur würde in eine bestimmte Richtung streben, trat nun das Zusammenspiel aus Zufall und Notwendigkeit. Die scheinbare Zweckmäßigkeit allen Lebens die wir beobachten ist im Grunde genommen da Ergebnis eines ewig andauernden Prozesses aus Versuch und Irrtum, dem erst durch natürliche Selektion eine Form von Richtung gegeben wird. Man könnte also sagen, dass Organismen nicht gewollt zweckmäßig sind, sondern vielmehr zweckmäßig geworden sind.
Der ganze Kram lässt sich auch etwas netter zusammenfassen, so wie es z.B. Werner Bröker (1991, S. 118) gemacht hat:


„Im Gegensatz zum planmäßigen Handeln eines Menschen aufgrund eines selbstgesteckten oder eines vorgegeben Zieles, verdankt das biologische Einzelphänomen seine Zielgerichtetheit, seine Zweckmäßigkeit einem Prozess der Evolution und/oder im individuellen Leben erlernten Programm, das wiederum selbst ein hierarchisch, strukturiertes System von Kausalbeziehungen repräsentiert; es wird nicht das Programm durch ein vorgegebenes, dem evolutiven Prozess externes Ziel bestimmt, sondern im Programm ist das Ziel durch den komplexen evolutiven Prozess selbst fixiert.“


Um diesen Bereich inneren Zweckmäßigkeit der Natur (also quasi eine interne Teleologie), vom Begriff der Teleologie besser trennen zu können, führte Colin Pittendrigh im Jahre 1958 den Begriff „Teleonomie“ ein.


Die Quintessenz aus dieser ganzen Sache heißt eigentlich, die Evolution hat kein Ziel, kennt kein Ziel und wird niemals ein Ziel haben. Genauso wenig entstehen auch Merkmale nicht, damit sie einen bestimmten Zweck erfüllen. Sie entstehen, weil sich bestimmte Individuen, die eine bestimmte Merkmalsausprägung haben die sie unter bestimmten äußeren Bedingungen dazu befähigt sich besser überleben zu können, sich besser Fortpflanzen. Dieser Prozess, über einen langen Zeitraum ausgedehnt führt zu einer Verstärkung der selektierten Merkmale und letztendlich zu einer, von außen betrachtet zweckmäßigen, Ausprägung eben dieser.
Aus naturwissenschaftlicher Sicht scheint alles klar zu sein, das Leben hat kein Ziel und keinen Zweck, es ist einfach da und wabert so vor sich hin, bis die Bedingungen auf der Erde so ungemütlich werden, dass kein Leben mehr möglich ist.


Stellt sich die Frag welche Auswirkungen das auf den Menschen hat. Aus rein naturwissenschaftlicher Sicht ist hier die Antwort klar: Wenn es keinen Zweck und kein Ziel von außen gibt, kann die Antwort nach dem Ziel und Zweck der menschlichen Existenz nur in jedem einzelnen Individuum liegen.
Wie schon gesagt, dies ist die naturwissenschaftliche Deutung des ganzen, vermutliche werden hier eine Reihe von Philosophen und ganz sicher eine Menge Theologen dem widersprechen, oder zumindest anmerken, dass ein naturwissenschaftliches Weltbild auch immer ein äußerst reduktionistisches Weltbild ist.


Aber ich habe ganz persönlich überhaupt kein Problem damit, wenn alle Existenz im Grunde sinnlos ist und ich mir meinen Sinn selbst wählen kann, natürlich nur gemäß des Falles ich bin überhaupt frei in meinen Entscheidungen, aber das ist ein komplett anderes Thema. Wichtig in dieser ganzen Diskussion nach dem Sinn und Zweck der eigenen Existenz ist doch, dass man überhaupt existiert und zudem noch dazu in der Lage ist, darüber nachdenken zu können.


So, mit diesem etwas kitschigen Abgang wollen wir es für heute mal genug sein lassen, ich hoffe ich konnte ein kleines bisschen die Tragweite aufzeigen, welche die Evolutionstheorie in letzter Instanz besitzen kann. Und vielleicht konnte ich auch ein, oder zwei Irrtümer über die Art und Weise wie Evolution abläuft (Stichwort: Fortschrittsdenken) ausräumen.





Literatur:
Bröker, W. (1991) Teleologie und Teleonomie. in: Scheffczyk, L (ed) Evolution. Probleme und Aspekte ihrer Theorie. Alber, Freiburg, München, S. 97-121.
Vogel, C. (1982) Charles Darwins Werk über die Abstammung des Menschen. In: Darwin C. (1982, 4. Auflage) Die Abstammung des Menschen. Mit einer Einführung von Christian Vogel. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart. S. VII-XLII.

05.11.2010

Wissenschaftstheoretische und ethische Aspekte der evolutionären Anthropologie

Diesen wunderbaren Titel hat ein Seminar, dass ich in diesem Semester besuche. Ich habe schon immer ein gewisses Interesse an den eher philosophisch relevanten Aspekten der Anthropologie aber auch der Naturwissenschaften im Allgemeinen gehabt, allerdings waren meine Auseinandersetzungen mit diesen Geschichten bislang eher hobbymäßiger Natur.

Da ich mich jetzt aber regelmäßig auf die Veranstaltungen vorbereiten muss und auch ein Referat zu halten habe, will ich diese Gelegenheit nutzen und in nächster Zeit etwas über bestimmte Aspekte, die in dem Seminar angesprochen werden, berichten. Den Anfang mache ich morgen mit einem kleinen Text über die Begriffe "Teleonomie und Teleologie".



P.S.: Ich werde am kommenden Dienstag einen Vortrag von Ullrich Kutschera mit dem furchtbaren Titel "Tatsache Evolution: Was Darwin noch nicht wusste" besuchen. Wer mir sagen kann, was an dem Titel so furchtbar ist, darf sich ob seines scharfen Verstandes auf die Schulter klopfen.

26.10.2010

Hängt Ida an einem zu langen Ast?

Micht treibt noch immer der von Gingerich et al (2010) präsentierte „Ida“ Stammbaum um. Genauer gesagt, versuche ich genauer nachzuvollziehen, nach welchen Kriterien die Taxa für die Stammbaumrekonstruktion ausgewählt wurden.
Wie bereits in meinem ersten Post erwähnt, war es die Absicht der Autoren möglichst wenige Taxa in ihre Analyse zu implementieren. Die erste Frage die sich mir hier gestellt hat war: „Was wäre eigentlich am optimalsten für eine Stammbaumrekonstruktion? Viele oder wenige Taxa?

Alles was ich bislang zu diesem Thema an neuerer Literatur gefunden habe kommt eigentlich zu dem Ergebnis, dass es eher vorteilhaft ist eine recht große Anzahl an Taxa in seinen Stammbaum zu integrieren um das „Long-Branch-Attraction“ (LBA) Phänomen zu vermeiden. Lange Äste in Stammbäumen sind immer ein Zeichen für eine lange, von anderen Taxa unabhängige Entwicklung. „Long-Branch-Attraction“ bedeutet grob gesagt, dass sich einzelne Taxa bevorzugt an diese „lange Äste“ in Stammbäumen anlagern. Die, dieser Verwandtschaftsbeziehung allerdings zugrundeliegende Merkmalskonfiguration, beruhen allerdings sehr wahrscheinlich auf Homoplasien.


Wie beeinflusst nun die Anzahl der Taxa in einer Stammbaumrekonstruktion jetzt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Phänomen auftritt? Nun das ist ganz einfach, je weniger Taxa ich habe, desto länger sind die einzelnen Äste. Wenn ich nun die Anzahl der Taxa erhöhe, so kann ich die einzelnen, langen Äste in viele, kürzere Äste aufspalten und somit die tatsächlichen Verwandtschaftsbeziehunen der Taxa untereinander viel besser auflösen.
LBA ist vor allem ein Problem in der Molekulargenetik, da man es dort häufig mit einer großen Anzahl, teilweise enorm schnell evolvierender Merkmale zu tun hat. Deshalb ist ein großteil der Literatur zu diesem Thema auch aus diesem Feld.


Aber wie schaut das alles bei morphologischen Merkmalen aus? Ich muss ehrlich sagen, dass ich bislang nicht sehr viel Literatur zu dem Thema gefunden habe, genauer gesagt habe ich nur eine kurze Passage zu dem Thema gefunden, die ich persönlich aber recht erhellend finde:


“ (...)is that fossil taxa have the potential to break up branches in deeper parts of the phylogenetic tree. (...)” Seiffert (2010, S. 4).


Fossile Taxa können also Äste tiefliegender Phylogenien aufbrechen. Da war doch was mit einem 45 mio. Jahre altem Primaten und einem Stammbaum mit nur einem fossilen Vertreter oder?
Ich hab mal den Stammbaum von Gingerich et al. (2010) etwas umgezeichnet und die längen der Äste in einen (sehr groben) Zeitmaßstab gesetzt:







Umgezeichneter Stammbaum von Gingerich et al. (2010). HINWEIS: Die Zeitpunkte wann sich die einzelnen Arten aufgespalten haben sind furchtbar grobe Schätzungen meinerseits und müssen nicht der Realität entsprechen. Hier geht es einzig und allein um eine Illustration.
Ida sitzt da auf einem ziemlich kurzen Ast nicht wahr? Oder anders gesagt, die anderen Äste sind alle ziemlich lang.

Das alles ist natürlich noch kein Beleg dafür, dass der Stammbaum von Gingerich et al. (2010) tatsächlich ein Resultat von LBA ist, doch könnte man das Untersuchen in dem man zu der ursprünglichen Datenmatrix gezielt weitere Taxa (*hust* Fossilien *hust*) hinzufügt um diese langen Äste aufzuspalten.

Also ganz ehrlich, je länger ich über dieses Thema nachdenke, desto mehr bekomme ich das Gefühl, dass dieser Stammbaum quatsch ist. Zwar machen Gingerich et al (2010) ein paar interessante Einwände zu den konkurrierenden Hypothesen aber auf der anderen Seite schreit deren Stammbaum förmlich nach „Wir haben unsere Taxa so gewählt, dass der Stammbaum unseren eigenen Erwartungen entspricht“. Ich frag mich im Moment auch, wie es dieser Stammbaum überhaupt in den Artikel geschafft hat.


Ich denke, ich werde in den nächsten Monaten noch ein paar Mal auf die ganze Geschichte zurückkommen und ich persönlich bin echt gespannt wie das alles weitergeht.


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Literatur


Gingerich, P., Franzen, J., Habersetzer, J., Hurum, J., & Smith, B. (2010). Darwinius masillae is a Haplorhine — Reply to Williams et al. (2010) Journal of Human Evolution DOI: 10.1016/j.jhevol.2010.07.013


HILLIS, D. (1998). Taxonomic Sampling, Phylogenetic Accuracy, and Investigator Bias Systematic Biology, 47 (1), 3-8 DOI: 10.1080/106351598260987


Seiffert, E. (2010). Form, function, adaptation, and phylogeny: Frederick Szalay and the study of the mammalian fossil record Journal of Human Evolution DOI: 10.1016/j.jhevol.2010.02.011

24.10.2010

Das Semester geht endlich wieder los

Irgendwie ist im Moment tote Hose an der Wissenschaftsfront, daher auch der Mangel an tatsächlich interessanten Beiträgen.

Wie dem auch sei, ab morgen beginnt wieder das Studium. Endlich! Warum ich mich so freue hat zwei Gründe:

1. Mir ist langweilig.
2. Es ist sehr wahrscheinlich mein letztes reguläres Semester.

Der zweite Punkt überrascht mich noch immer ein kleines bisschen. Ich studiere jetzt schon 5 Jahre lang Anthropologie und wenn man so mitten im Studium drin ist, hat man das Gefühl es hört nie auf. Ich musste im letzten Sommer einen Vortrag in einem Seminar halten und hab am Abend vorher zu meinem Bruder gesagt "das ist vermutlich mein letzter Vortrag als Student". Da habe ich zum ersten Mal realisiert, dass so ein Studium tatsächlich auch mal zu Ende gehen kann. Auf der anderen Seite sage ich aber auch: Ich bin bereit dafür.


Ich habe, vor allen in den letzten zwei Jahren, eine ganze Menge gelernt und mich mit sehr vielen Dingen auseinandergesetzt. Und mittlerweile habe ich das Gefühl, dass mir mein Studium bei vielen dieser Dinge einfach nicht mehr weiterhelfen kann. Es wird langsam Zeit, dass ich die Gelegenheit kriege mich selber mit bestimmten Fragen auseinandersetzen zu können. Und wenn alles gut geht (und meine Magisterarbeitsidee tatsächlich gut ist) werde ich bald die Gelegenheit dazu bekommen.


Bis dahin muss ich allerdings noch scheinfrei werden. Mir fehlen noch drei Stück, alle drei sind recht umfangreich und ich plane sie alle in diesem Semester zu machen. Wie und in welcher Reihenfolge weiß ich noch nicht so recht, aber ich da wird mir schon was einfallen.

Ich glaube so sehr wie auf dieses Semester, habe ich mich noch nie auf ein Semester gefreut und ich bin mir ziemlich sicher es wird eine Menge Spaß machen.

Bis demnächst, dann hoffentlich wieder mit etwas interessanterem.

03.10.2010

Ich schreibe wie Sigmund Freud...

... das sagt zumindest dieses nette Spiezeug was ich eben auf der Homepage der FAZ gefunden habe, wenn ich es mit einem meiner Blogposts hier füttere. Ich hab ja ein bisschen was von Freud gelesen und muss sagen, dass ich mir nicht sicher bin ob dieses Ergebnis FÜR die Lesbarkeit meiner Texte spricht.

Wobei, als ich einen etwas banaleren Text von mir dort reinkopiert habe, sagte mir das Programm, ich schriebe wie irgendeine Frauenromanautorin von der ich bislang noch nichts gehört habe.

Dann doch lieber Sigmund Freud.

P.S.: Dieser Text führte zu folgendem Ergebnis:



Rainald Goetz


Der Herr hat sich, laut Wikipedia, übrigens mal bei einem Lesewettbewerb mit einer Rasierklinge die Stirn aufgeschnitten.

22.09.2010

Wohin mit Ida?

Im letzten Jahr gab es ja einige Aufregungen um „Ida“, einem aus der Grube Messel bei Darmstadt stammenden Affenfossil, das durch eine unsäglich dämliche Medienkampagne als in der direkten Vorfahrenschaft des Menschen stehend dargestellt wurde.

Hat man sich die Mühe gemacht, die tatsächliche Publikation (die bei PLoS-Online erschienen und daher für jeden zugänglich ist) zu lesen, so stellt sich heraus, das „Ida“, oder Darwinius massilae wie das gute Stück wissenschaftlich heißt, dort als in der Stammlinie bzw. in die nähere Verwandtschaft der heutigen „Trockennasenaffen“ gestellt wird, zu denen unter anderem auch wir zählen. Das die Autoren nur relativ wenig unternommen haben um diesen „missing Link“ Blödsinn zu relativieren lassen wir jetzt einfach mal so stehen.
Vielmehr möchte ich mich um die wissenschaftliche Diskussion des Fundes kümmern, denn dort ging es in den letzten Monaten doch relativ rund.


Ida gehört der Familie der „Adapoidea“ an. Dies war eine Gruppe von Primaten die vor allem im Eozän (55-35 MYA) gelebt haben und dort über ganz Europa, Asien, Nordamerika und wohl auch Afrika verbreitet waren.
Gemeinhin wurden die Adapoidea in eine nähere Verwandtschaft zu den heutigen Feuchtnasenaffen (Lemuren und Loris) gestellt, wohingegen die andere große Gruppe eozäner Primaten, die Omomyioidea (ich hoffe ich hab die jetzt richtig geschrieben) in eine nähere Verwandtschaft zu den Trockennasenaffen gestellt wurden.


Diese Interpretation wurde nun durch „Ida“ herausgefordert. Denn Ida ist zwar ein Adapide, hat aber einige Merkmale, wie sie auch heutige Trockennasenaffen besitzen.


Im Laufe des vergangenen Jahres kamen nun zwei Artikel raus, die eben diese ursprüngliche Interpretation  angegriffen haben. Die erste „Attacke“ kam von Erik Seiffert, der in Afrika ebenfalls einen adapiden Primaten (Afradapis longicristatus) fand, der ebenfalls Merkmale mit frühen Trockennasenaffen gemeinsam hat. Allerdings platzierte eine phylogenetische Analyse die Seiffert und Kollegen durchgeführt haben, die gesamten Adapoidea (inklusive Ida) nicht in nähere Verwandtschaft zu den Trockennasenaffen sondern zu den Feuchtnasenaffen. Dies würde bedeuteten, dass die von den ursprünglichen Autoren als Synapomorphien gedeuteten Merkmale in Wirklichkeit Homoplasien sind. Zudem argumentierten Seiffert und Kollegen, dass bestimmte Merkmale über die Ida verfügt (z.B. einen komplett verwachsenen Unterkiefer) bei frühen Vertretern der Trockennasenaffen noch gar nicht vorhanden waren.
Im März dieses Jahres, waren dann Blythe Williams und Kollegen am Zug. Sie sagen, das die Merkmale die benutzt wurden um Ida als Trockennasenaffen zu definieren keine große Aussagekraft besitzen, da sie sowohl bei einigen Trocken- als auch bei einigen Feuchtnasenaffen vorkommen und somit wohl mehrmals unabhängig voneinander entstanden bzw. ursprünglicher natur sind. Zudem kritisieren sie, dass die ursprünglichen Autoren keinerlei Vergleiche zu fossilen Trockennasenaffen angestellt haben, sondern Ida nur mit rezenten Formen verglichen haben.


Betrachtet man sich diese Einwände, so scheint es nicht sehr gut um die „Ida ist ein Trockennasenaffe“- Hypothese zu stehen.


Seit kurzer Zeit gibt es allerdings eine Antwort der ursprünglichen Ida-Beschreiber auf die Vorwürfe. Zu lesen in den Vorabveröffentlichungen des „Journals of human Evolution“. Dort versuchen die Autoren die einzelnen Vorwürfe an ihre ursprüngliche Interpretation zu entkräften, was ihnen eher leidlich gelingt. Sie können zwar aufzeigen, dass die von Seiffert et al. (2009) vorgestellte phylogenetische Analyse statistisch nicht signifikant ist, doch ist die restliche Argumentationsdecke ziemlich dünn.


Die von Williams et al. geäußerten Vorwürfe werden mit relativ wagen Entgegnungen beantwortet, so wie dieser hier:


Claws or grooming claws absent (character 25)


Claws or grooming claws on the pes change from present to absent between nodes 13 and 12 in the phylogram of Figure 2. Thus the loss of grooming claws and acquisition of nails on all digits in Darwinius is appropriately counted as a derived characteristic shared with Haplorhini. The presence of nails on all pedal digits in all anthropoid families except Callitrichidae contrasts with retention of claws or grooming claws in other primates (outgroup Tupaioidea, proprimate Plesiadapoidea, Lemuroidea, Lorisoidea, and Tarsioidea). Thus, contrary to Williams et al. (2010), we cannot imagine (meine Betonung) nails on all digits to be primitive for primates (these are again conceivably convergent, but not primitive). (Gingerich et al., 2010, S. 5).




Der Passus “We cannot imagine” kommt noch mal an einer anderen Stelle vor.
Ich bin zwar ein Freund von Fantasie und Vorstellungskraft in der Wissenschaft, doch wenn ich für oder gegen etwas auf wissenschaftlicher Ebene argumentieren will, so ist ein Argument was ich mit „we cannot imagine“ beginne, schlichtweg irrelvant. Schließlich kann man sich ja alles mögliche Vorstellen oder nicht vorstellen. Wichtiger wäre es zu gucken, wie denn nun die Faktenlage hier aussieht.
Welche Primaten haben Putzkrallen? Welche nicht? Sind die Putzkrallen der einzelnen Formen an den gleichen Fingern? Sind sie aus den gleichen Strukturen aufgebaut? Wenn ich ein Merkmal als ursprünglich klassifizieren will, muss ich sicher gehen, dass es auch tatsächlich ursprünglich ist. Nur weil die meisten Feuchtnasenaffen eine Putzkralle haben, und die in ihren sonstigen Merkmalen ziemlich ursprünglich sind, heißt das noch lange nicht das sie als Rohmodell für alle ursprünglichen Primaten gelten. Dies ist ein Fall von Stufenleiterdenken und deshalb einfach falsch.




Ein weiterer Punkt der mich ganz persönlich stört ist phylogenetische "Analyse" die sie durchgeführt haben:

Gingerich et al. (2010)
 




















Wie man sehen kann, ist Ida hier das Schwestertaxon aller Anthropoidea, also aller Alt- und Neuweltaffen. An diesem Stammbaum stören mich zwei Dinge:

Nummer 1: Es wurden erneut, mit Ausnahme von der guten Ida, nur rezente Arten in der Analyse verwendet. Wenn Ida ein Stammvertreter der Trockennasenaffen ist, wo sind dann die Vergleiche zu anderen frühen Trockennasenaffen? Und wenn Ida noch immer zu den Adapoidea gehört, wieso werden dann nicht noch andere adapide Primaten in die Analyse miteinbezogen? Die von Gingerich und Kollegen dargestellte Analyse sagt momentan nur aus, dass wenn man Darwinius massilae, mit anderen rezenten Arten vergleicht, es eine Schwestergruppe mit den rezenten Trockennasenaffen bildet.
Begründet wurde die Wahl der Taxa übrigens damit, dass man eine möglichst geringe Anzahl an Taxa für die Analyse benutzen wollte. Zu viele Taxa können tatsächlich unter umständen zu falschen Stammbaumhypothesen führen. Aber auch hier bleibt die Frage: Wieso nur eine fossile Form? Wieso mit Ida nur ein Vertreter der Adapoidea? Diese ganze Sache kommt mir so ein bisschen wie ein „Selection bias“ vor. Ich beziehe einfach nur die Formen in meine Analyse ein, die meine vorgefertigte Meinung unterstützen.

Das zweite was mich stutzig macht, ist das sich „Ida“ zwischen die Anthropoidea und die Tarsier gemogelt hat. Die Tarsier (Koboldmakis) sind eine äußerst schwierige Gruppe, wenn es darum geht Primatenstammbäume zu generieren. Das hat damit zu tun, dass sie einen sehr langen Ast haben, was bedeutet, dass sie eine lange, von anderen Primaten unabhängige, Stammesgeschichte haben. Aus diesem Grunde bin ich immer etwas skeptisch, wenn sich ein Taxon zwischen die Tarsier und die anderen Trockennasenaffen mogelt, da es in der Vergangenheit schon ziemlich häufig Probleme an genau dieser Stelle gab. Natürlich ist das kein wirkliches Argument, aber ich denke man sollte bei solch problematischen Taxa immer besonders vorsichtig sein, wenn es ans Interpretieren der Daten geht.

Kommen wir mal zum Abschluss der ganzen Sache:
Betrachtet man sich die ganze Diskussion so erscheint mit die Argumentationskette sowohl im originalem Artikel von Franzen et al. (2009) als auch bei der neuen Publikation von Gingerich und Kollegen (2010) bei weitem nicht so eindeutig, wie sie es darstellen. Wir wissen noch viel zu wenig über die frühe Radiation der Primaten und wie ihre ursprüngliche Merkmalskonfiguration war, als das wir jetzt schon mit hoher Sicherheit sagen zu können, wo genau Ida sich denn jetzt im Primatenstammbaum platzieren sollte. Hinzu kommen noch eine ganze Reihe Probleme, welche phylogenetische Stammbaumrekonstruktionen, speziell wenn sie fossile Formen beinhalten, grundsätzlich mit sich bringen. Ich persönlich bin eher auf der Seite von derjenigen, die Ida und die gesamten Adapoidea eher in näherer Verwandtschaft zu den Feuchtnasenaffen sehen, ganz einfach weil diese Seite die wesentlich schlüssigeren Argumente vorzuweisen hat.


Das heißt aber nicht, dass man diese Position nicht herausfordern sollte, so wie es die Erstbeschreiber von Ida tun. Allerdings sollten sich doch mit wesentlich handfesteren Argumenten kommen als „wir können uns nicht vorstellen, dass...“ und quasi wertlosen phylogenetischen Analysen.





Literatur:

Franzen JL, Gingerich PD, Habersetzer J, Hurum JH, von Koenigswald W, & Smith BH (2009). Complete primate skeleton from the Middle Eocene of Messel in Germany: morphology and paleobiology. PloS one, 4 (5) PMID: 19492084

Gingerich, P., Franzen, J., Habersetzer, J., Hurum, J., & Smith, B. (2010). Darwinius masillae is a Haplorhine — Reply to Williams et al. (2010) Journal of Human Evolution DOI: 10.1016/j.jhevol.2010.07.013

Seiffert, E., Perry, J., Simons, E., & Boyer, D. (2009). Convergent evolution of anthropoid-like adaptations in Eocene adapiform primates Nature, 461 (7267), 1118-1121 DOI: 10.1038/nature08429

Williams, B., Kay, R., Christopher Kirk, E., & Ross, C. (2010). Darwinius masillae is a strepsirrhine—a reply to Franzen et al. (2009) Journal of Human Evolution DOI: 10.1016/j.jhevol.2010.01.003


17.08.2010

Australopithecus und der Gebrauch von Werkzeugen

Letzte Woche erschien in Nature ein Artikel von Shannon Mac Pherron und Kollegen. In diesem Artikel beschrieben die Autoren, dass sie in einer 3,5 Mio. Jahre alten Fundstelle in Äthiopien Tierknochen mit Schnittspuren gefunden haben. bei den Knochen handelte es sich um die Rippe eines „Kuhgroßen“ und um den Oberschenkel eines „Ziegengroßen“ Tieres.
Sollten diese Untersuchungen stimmen, so handelt es sich bei diesen Spuren um die ältesten Belege für den Gebrauch von Steinwerkzeugen. Zudem würde es sich um die ältesten Anzeichen für die Ausbeutung tierischer Nahrung handeln.


Es gibt allerdings ein paar Probleme bei diesem Artikel. Zum einen ist nicht bekannt, wie viele Knochen noch in der Grabung gefunden wurden. Außerdem ist „2“ keine wirklich große Stichprobe, vor allem wenn man nicht weiß wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass "natürliche" Schnittspuren, wie künstliche aussehen. Außerdem wurden keinerlei Werkzeuge in der Nähe gefunden. Dann hab ich persönlich noch ein Problem mit folgenden Satz:


„This specimen [Der Oberschenkelknochen -meine Anmerkung] does not have any notches of the type that are sometimes associated with hammerstone percussion on long bones(8–10), but this may be owing to post-depositional breakage of the edges that removed such notches” (MacPherron et al., 2010, S. 858)


Dem Oberschenkelknochen fehlt wohl ein Merkmal, was man häufiger an Langknochen findet, die aufgebrochen wurden um an das Knochenmark zu gelangen. Die Autoren äußern die Vermutung, dass dieses Merkmal durch Verwesungs- und Verwitterungsprozesse verloren gegangen ist. Der Punkt der mich an dieser Annahme stört ist der, dass wir es einfach nicht wissen und wahrscheinlich niemals wissen können, ob dieser Knochen nun auch noch diese Spuren hat bzw. hatte. Das bedeutet, dass man lieber mal davon ausgehen sollte, dass diese Spuren nicht vorhanden sind. Die, von den Autoren in dem Zitat oben erwähnten, Informationen haben in dem Sinne überhaupt keinen wirklichen Wert.
Dieser Satz verwundert mich umso mehr, da die anderen Spuren wohl recht eindeutig und sicher sind, in dem Sinne also überhaupt keine Not besteht solch unsichere Informationen mit in den Artikel zu nehmen.


Aber gut, lassen wir die Kritik mal Kritik sein und beschäftigen wir uns mit den Konsequenzen dieser Entdeckung.
Die so genannte „Expensive Tissue“ Hypothese geht davon aus, dass ein wichtiger Schritt hin zu der Entwicklung eines größeren Gehirns der war, dass der Verdauungstrakt verkleinert werden konnte. wie hinlänglich bekannt ist, ist ein großes Gehirn äußerst teuer im Unterhalt. Gleiches gilt für einen großen Verdauungstrakt, den man zum Beispiel braucht um pflanzliche Nahrung verdauen zu können. Wenn es jetzt also möglich wäre, statt schwer verdaulicher, pflanzlicher, auf leichter verdaulichere, tierische Kost „umzusteigen“, so könnte ohne „Energieverlust“ der Verdauungstrakt verkleinert werden. Auf diese Art und Weise könnten genügend Ressourcen frei werden damit, die richtigen Selektionsfaktoren vorausgesetzt, ein größeres Gehirn entstehen könnte. Diese Hypothese ist in keinster Weise bestätigt oder widerlegt worden, allerdings liefert sie eine gute physiologische Erklärung für den gesamten Prozess.


Nun gut, jetzt wird ja in aller Regel ein vergrößertes Gehirn mit dem auftauchen der Gattung Homo in Verbindung gebracht. Die hier geschilderten Funde fallen aber eindeutig in die Zeit von  Australopithecus afarensis. Das bedeutet, dass entweder der „Tradeoff“ vom großen Verdauungstrakt hin zum größeren Gehirn schon passiert ist, oder dass die Expensive Tissue Hypothese schlichtweg nicht zutrifft.
Das ganze wird noch verwirrender, wenn wir uns Australopithecus sediba ansehen. Diese Form wurde diesen April vorgestellt und weist ein Mosaik an Homo-ähnlichen Merkmalen (verkleinertes Gebiss) und Australopithecus-ähnlichen Merkmalen (kleines Gehirn) auf. Das verkleinerte Gebiss lässt auf eine Reduktion des Verdauungsapparates schließen, allerdings kam es zu keiner Vergrößerung des Hirnvolumens. Irgendwo komisch, wenn man bedenkt, dass die Australopithecinen plötzlich schon seit ca.1,5 Mio. Jahren Fleisch gegessen haben, oder etwa nicht?


Ich persönlich denke, man muss vorsichtig sein, aus einzelnen Funden generelle Schlüsse auf das Verhalten, die Kultur und die Ernährungsgewohnheiten ganzer Gattungen zu schließen. Vor allem, wenn wir noch keinen Dunst davon haben, wie die einzelnen Formen tatsächlich miteinander verwandt sind.
Angenommen, einige Australopithecinen haben tatsächlich tierische Überreste ausgebeutet und dabei auch Steinwerkzeuge benutzt. Wir wissen noch nicht, ob diese „Kultur“ auch an andere Gruppen weitergegeben wurde. Die unterschiedlichen "Schimpansenkulturen" in Afrika sind auch mehr oder weniger isoliert. Selbst wenn dort es kulturellen Austausch gibt, so geht dieser vermutlich äußerst langsam vonstatten, bedenkt man, dass diese Tiere über keinerlei Sprache verfügen um miteinander zu kommunizieren.


Ähnliches können wir auch bei den Australopithecinen vermuten. Aus diesem Grunde, sagt dieser einzelne Fund, auch wenn die Autoren mit ihren Annahmen Recht haben sollten, noch nichts wirkliches darüber aus, ob es schon vor 3,5 Mio. Jahren eine durchgehende Ausbeutung tierischer Nahrung, inklusive des Gebrauchs von Steinwerkzeugen bei Australopithecus afarensis gab. Dafür ist es schlichtweg noch zu früh. Werden jetzt allerdings noch an anderen Orten, die in die gleiche Zeit datieren, Hinweise auf Werkzeuggebrauch und das Ausbeutuen tierischer Nahrungsressourcen, dann kann diese Geschichte wirklich interessant werden.
Man sollte diese Sache deshalb auf jeden Fall mal im Auge behalten.


Literatur:


McPherron, S., Alemseged, Z., Marean, C., Wynn, J., Reed, D., Geraads, D., Bobe, R., & Béarat, H. (2010). Evidence for stone-tool-assisted consumption of animal tissues before 3.39 million years ago at Dikika, Ethiopia Nature, 466 (7308), 857-860 DOI: 10.1038/nature09248

Australopithecus afarensis used stone tools (John Hawks)