Was sind Primaten, wo kommen sie her und seit wann gibt es sie?

Wir können den Menschen nur dann in seiner Vollkommenheit als biologisches Wesen verstehen, wenn wir seine Evolution im Zusammenhang mit der Evolution der gesamten Ordnung der Primaten betrachten.

Die Fragen zum Ursprung der Primaten und ihrer Verwandtschaft zu anderen Säugetierordnungen ist schon seit über 100 Jahren Gegenstand konstanter Debatten unter Paläontologen, Paläoanthropologen, Evolutionsbiologen und, seit ca. 20 immer zunehmender, Molekulargenetikern.
Diese Debatten haben eine Unzahl an Hypothesen und Theorien innerhalb der einzelnen Themenkomplexe entstehen lassen, doch bislang ist es noch nicht gelungen diese einzelne Fragmente in ein, in sich geschlossenes, Gesamtkonzept übertragen zu können.
In diesem Text will ich einen Überblick über diese Debatten liefern und versuchen auf bestimmte Schwachstellen hinzuweisen.






Um dies zu erreichen, will ich versuchen folgende Fragen zu beantworten:


1. Was ist überhaupt ein Primat?


2. Mit welchen anderen Säugetierordnungen sind die Primaten verwandt?


3. Wo, wie und wann sind die Primaten entstanden?


4. Primat oder doch nicht: Gehören die Plesiadapiformes zu den Primaten?


Kommen wir zum ersten Punkt.


1. Was ist überhaupt ein Primat?

Das ganze Dilemma um den Ursprung der Primaten fängt schon damit an, dass es ungeheuer schwierig ist eine genaue Definition dafür zu finden, was genau die Primaten als Ordnung definiert. Im Grunde genommen, gibt es vier Ansätze, wie man ein bestimmtes Taxon definiert (Silcox, 2007):


1. Kronenbasierter Ansatz (Bild A in Abb. 1): Hierbei bezieht sich die Definition des Taxons auf zwei Schwestergruppen inklusive ihres letzten gemeinsamen Vorfahren. Dies ist im Grunde genommen ein streng kladistischer Ansatz in dem nur Formen zu den Primaten gezählt werden, die gemeinsame abgeleitete Merkmale mit rezenten Primaten aufweisen.

2. Stammlinienbasierter Ansatz (Bild B in Abb. 1): Im Grunde genommen ist dies die am weitesten gefasste Definition eines Taxons. Hier wird nicht nur die Kronengruppe, sondern auch die gesamte Stammlinie hin zu dieser Kronengruppe. Ein Streng kladistische ist bei diesem Ansatz nicht möglich da den Stammlinienvertretern in aller Regel ursprünglicher sind als die Kronengruppe.

3. Merkmalsbasierter Ansatz (Bild C in Abb. 1): Dieser Ansatz stellt im Grunde genommen einen Kompromiss aus den ersten beiden Ansätzen dar. Hier erfasst die Definition des Taxons nicht nur die Kronengruppe, sondern aus alle Vertreter der Stammlinie die ein bestimmtes, abgeleitetes Merkmal besitzen.

 



Abb. 1: Herangehensweisen an die Definition eines Taxons (nach Silcox, 2007)


Wie man sehen kann, ist es häufig von dem bevorzugten Ansatz abhängig, ab wann man ein Fossil als Primat betrachtet oder nicht.
Bei den Primaten sorgen vor allem die Plesiadapiformes für Probleme. Die Plesiadapiformes waren eine enorm diverse Säugetiergruppe, die von der späten Kreide bis ins Eozän existiert hat. Aufgrund der hohen Ähnlichkeit in bestimmten Merkmalen, zählen einige Forscher die Plesiadapiformes zu den Primaten. Andere hingegen lehnen dies aus verschiedensten Gründen ab. Ich werde mich dieser Problematik am Ende des Textes nochmals annehmen, da sie viele weitere Punkte die noch folgen werden berührt.

Also, wie könnte jetzt aber eine Definition der Primaten aussehen?

Hier mal ein Auszug aus einer kladistischen Definition von Martin (1968, 1986 – Aus Henke & Rothe, 1994, modifiziert):


1. Bewohner tropischer und subtropischer Ökosysteme.


2. An das Greifen angepasste Extremitäten.


3. Greiffuß mit divergentem Großzehe, Ausnahme: Homo.


4. Plattnägel an Finger und Zehen, Großzehe immer mit Nagel.


5. Palmar- und Plantarflächen mit Tastballen und Hautleisten.


6. Hinterextremität dominiert bei Lokomotion, Körperschwerpunkt nahe der Hinterextremität.


7. Diagonale Schrittfolge.


8. Relativ große, zur Mitte konvergierende Augenhöhlen; postorbitale Spange vorhanden


9. Maximal 36 Zähne (2.1.3.3/2.1.3.3).


Insgesamt hat Martin 25 Merkmale definiert, von denen 11 auch an fossilen Formen festgestellt werden könnten. Nach dieser Definition sind die Plesiadapiformes keine Vertreter der Primaten, sonder stellen eine eigene Ordnung dar.

Bloch und Kollegen (2007) verfolgten eher einen Stammlinienbasierenden Ansatz bei ihrer Definition der Primaten:


1. Verlängerung des dritten Backenzahns


2. Vorhandenseins eine Schmelzbandes (Postprotocingulum) an den oberen Backenzähnen


3. Verlängerte Fingerknochen.


Diese Definition schloss auch sämtliche Plesiadapiformes mit ein.


Vergleicht man beide Ansätze so sieht man, dass es bei einem stammlinienbasierenden Ansatz häufig Probleme geben kann genügend diagnostische Merkmale zu finden, das liegt zum einen an de häufig nur in Fragmenten vorkommenden Fossilien und zum anderen an der Tatsache dass die meisten Stammlinienvertreter noch wesentlich ursprünglicher waren.

Ziemlich verwirrend oder? Das ganze wird nicht weniger verwirrend wenn wir uns jetzt mal der Frage nach den Verwandtschaftsbeziehungen der Primaten zu anderen Säugetieren stellen.


2. Mit welchen anderen Säugetierordnungen sind die Primaten verwandt?

Insgesamt gibt es fünf Hypothesen, wenn es um die Verwandtschaft der Primaten zu anderen Säugetierordnungen geht:


Abb.2: Hypothesen zu den supraordinalen Verwandtschaftsbeziehungen der Primaten (nach Sargis, 2007, modifiziert): A nach Wible und Covert (1988); B, nach Beard (1993a), C nach Murphy et al. (2001a, b), Sargis (2007, Analyse 3), D nach Waddel (1999), Janečka et al. (2007), Sargis (2007, Analyse 1), E nach Sargis (2007, Analyse 2).


Lange Zeit wurden die Primaten zusammen mit den Fledermäusen, den Dermoptera und den Scandentia (Spitzhörnchen – früher zu den Primaten zugehörig) in eine übergeordnetere Gruppe namens „Archonta“ gepackt. Hauptgrund für diese Gruppierung sind Ähnlichkeiten der Primaten/Scandentia zu den Dermoptera, die wiederum enorme Ähnlichkeiten zu den Fledermäusen haben. Gerade die Verwandtschaft zwischen Dermoptera und Fledermäusen wurde für eine lange Zeit als gegeben hingenommen und überhaupt nicht mehr infrage gestellt.


Das ganze änderte sich ab Mitte der 90er Jahre, als die ersten molekulargenetischen Untersuchungen aufkamen. Diese gruppierten zwar Scandentia, Primaten und Dermoptera zusammen (diese Gruppe wurde „Euarchonta“ getauft), die Fledermäuse flogen aus dieser Gruppe allerdings komplett raus.


Interessant ist, dass jede molekulargenetische Untersuchung (zumindest alle die mir untergekommen sind) dieses Ergebnis abliefert, wohingegen es nur eine einzige Untersuchung mit morphologischen Merkmalen (Sargis, 2007) gibt, die diese Gruppierung zum Ergebnis hat. Alle anderen Untersuchungen mit morphologischen Merkmalen haben die „Archonta“ zum Ergebnis gehabt. Aufgrund der überwältigenden Beweislast zugunsten der Euarchonta, ist davon auszugehen, dass die Molekulargenetik in diesem Zusammenhang wohl recht hat. Allerdings ist dieser scheinbare in Widerspruch in den Aussagen molekulargenetischer und morphologischer Untersuchungen äußerst unbefriedigend und Bedarf dringenst einer Lösung.

Wie dem auch sei, die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Euarchonta sind noch immer nicht ganz geklärt. Eine Vielversprechende Untersuchung von Janečka et al. (2007) sieht die Dermoptera als Schwestergruppe der Primaten, allerdings gibt es auch eine enorme Anzahl morphologischer als auch molekulargenetischer Studien, die für die Scandentia als Schwestergruppe der Primaten sprechen.

Der Molekulargenetik sei dank, konnte man die Anzahl der Hypothesen also auf insgesamt drei Stück reduzieren, allerdings bedarf es weiterer Analysen und vor allem, „guter“ Merkmale um diese Frage eindeutiger klären zu können.


3. Wo, wann und wie sind die Primaten entstanden?

Diese Frage hängt enorm eng mit der Frage nach einer vernünftigen Definition der Primaten zusammen.

Zählt man die Plesiadapiformes zu den Primaten, so findet man erste Fossilien vor 65 Mio. Jahren in Nordamerika.


Erste Fossilien mit Ähnlichkeiten zu rezenten Primaten tauchen vor gut 55 Millionen Jahren in Europa, Nordamerika, Asien und Afrika auf.


Molekulargenetische Untersuchungen datieren die Abspaltung der Primaten auf ca. 80 Mio. Jahre. Und schlussendlich gibt es auch noch Annahmen, dass die Primaten schon vor mehr als 120 Mio. Jahren entstanden sind.


Das Problem mit dem geografischen Ursprung der Primaten ist, dass es ein ziemliches Ungleichgewicht in der Verteilung der Fossilien gibt. In Europa und Nordamerika wurde schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts systematisch gegraben, demzufolge finden sich auch dort die meisten Fossilien. Erst in jüngster Zeit schließen Afrika und Asien auf, in Afrika wurde auch der bislang älteste Primat (Altiatlasius) gefunden.


Um diese Frage eingehender klären zu können ist es nötig die Lücke im Fossilrekord zwischen Europa und Nordamerika auf der einen und Afrika und Asien auf der anderen Seite weiter zu schließen. Weitergehend muss die Lücke zwischen molekulargenetischer Datierung und erstem Auftauchen im Fossilrekord verkleinert werden. Im Moment liegen zwischen diesen beiden Daten mindestens 15 Mio. Jahre, wenn nicht gar mehr, in denen man überhaupt nicht weiß, was so alles passiert ist.

Die Frage nach dem „wie“ die Primaten entstanden sind, also welche speziellen ökologischen Bedingungen zum entstehen der Primaten geführt haben ist ebenso wenig geklärt.


Momentan wird die Annahme, dass die Evolution der Primaten durch die gleichzeitige Ausbreitung der Blütenpflanzen begünstigt wurde. Es gibt Oppossumarten in Südamerika, die einige primatenähnliche Merkmale entwickelt haben (z.B. eine Greifzehe mit Nagel und eine diagonale Schrittfolge), die im terminalen Geäst von Bäumen leben um sich dort von Früchten, Nektar und Aufgeschreckten Insekten ernähren.
Zudem finden sich bei bestimmten Plesiadapiformes-Arten ähnliche Merkmale. Diese kann man allerdings nur als Beleg heranziehen, wenn diese ihre Merkmale nicht unabhängig von den Primaten erworben haben.


Im Grunde genommen steht die Beantwortung der Frage „wie“ die Primaten entstanden sind, am Ende der ganzen Kette von Fragen die ich zuvor gestellt habe. Jeder Versuch diese Frage zu beantworten ohne die vorherigen anzutasten führt letztendlich nur zu mehr oder weniger diffusen Vermutungen.


4. Primat oder doch nicht: Gehören die Plesiadapiformes zu den Primaten?


Ich habe ja schon mehrmals anklingen lassen, dass viele Annahmen im Bezug auf die frühe Evolution der Primaten eng mit der Frage zusammenhängen, ob die Plesiadapiformes tatsächlich zu den Primaten gehören.


Ein großes Problem was man bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatte war, dass man keine vernünftige Definition der Primaten hatte. Man hat sich stets irgendwelcher subjektiven Kriterien wie z.B. „Evolutionstrends“ oder eher ursprünglicherer Merkmale bedient um ein Fossil einordnen zu können. Das Problem dieser Definitionen ist, ist dass sie oftmals viel zu breit gefasst sind. Mithilfe von Evolutionstrends und ursprünglichen Merkmalen, kann man enorm vieles zu den Primaten zählen, aber ob diese Formen auch tatsächlich Primaten waren, ist zu bezweifeln.

Folgt man der phylogenetischen Systematik, so sind nur abgeleitete Merkmale, die sowohl in der Stammart, als auch in den aus ihr hervorgegangenen Tochterarten enthalten sind, in der Lage, die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse darstellen zu können. Martin (1968,1986) hat eine solche Definition versucht und kam zu dem Schluss, dass die Plesiadapiformes nicht zu den Primaten zu zählen sind.
Die von Bloch und Kollegen (2007) definierten Merkmale der Primaten beruhen fast ausschließlich auf dentalen Merkmalen. Diese Merkmale sind, aufgrund der hohen funktionalen Anforderungen auf das Gebiss, sehr anfällig für parallele Entwicklungen, haben also keinen großen Aussagewert. Außerdem gibt es Anzeichen dafür, dass die Plesiadapiformes als solches keine natürliche Gruppe sind (Wible & Covert, 1987, Bloch et al., 2007).

Geht man von diesem Standpunkt aus, so sollte man zumindest einen Großteil der Plesiadapiformes aus den Primaten ausschließen. Wie sich das mit Formen verhält, die Primatenähnliche Merkmale aufweisen (z.B. eine abspreizbare Großzehe) bleibt abzuwarten, denn auch bei diesen Formen gibt es ein paar Unstimmigkeiten.  Welche genau, werde ich demnächst mal darstellen.


Meine ganz persönliche Meinung ist, eine ganz strenge Definition der Primaten beizubehalten und nur die Formen „hineinzulassen“ die man unzweifelhaft als Primaten identifizieren kann. Nur so verhindere ich, dass ich mich subjektiver oder zweifelhafter Kriterien bedienen muss um die Primaten als Ordnung definieren zu können.


Schlusswort

Wie man sehen kann ist die ganze Geschichte ziemlich vertrackt. Im Grunde genommen weiß man noch nichts genaues, eigentlich wie fast überall in der Paläoanthropologie.


Was mir bei meinen Recherchen zu dem Thema aufgefallen ist, ist dass dieses Thema weltweit nur von einer Handvoll Wissenschaftlern bearbeitet wird, von denen mindestens ein Drittel den gleichen Doktorvater hatte. Dementsprechend festgefahren mutet die Forschung in diesem Feld auch an. Seit 20 Jahren sind es immer die gleichen Leute, die immer die gleichen Argumente bringen ohne dass mal versucht wird die Sache komplett neu zu überdenken.


Ich persönlich denke, dass ein paar neue Gedanken und Theorien diesem ganzen Feld mal gut tun würden. Sie müssen ja nicht unbedingt Bahnbrechend oder gar richtig sein. Es geht nur darum, bestehende Strukturen aufs Neue herauszufordern um die dort vorherrschende Lethargie ein wenig aufbrechen zu können.


Literatur:

Bloch, J. I., Silcox, M.T., Boyer, D.M. und Sargis, E.J. 2007. New Paleocene

skeletons and the relationship of plesiadapiforms to crown-clade primates. Proc.
Natl. Acad. Sci. USA, 104(4), 1159-1164.
Henke, W., Rothe, H. 1994. Paläoanthropologie. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York.
Janečka, J.E., Miller, W., Pringle, T.H., Wiens, F., Zitzmann, A., Helgen, K.M., Springer, M.S., Murphy, W.J., 2007. Molecular and genomic data identify the
closest living relative of primates. Science 318, 792–794.
Martin, R.D. 1968. Towards a new definition of primates. Man 3, 377-401.
Martin, R.D., 1986. Primates: a definition. In: Wood, B., Martin, L., Andrews, P. (Eds.). Major Topics in Primate and Human Evolution. Cambridge University Press, Cambridge.
S. 1-31.
Sargis, E.J. 2007. The postcranial morphology of Ptilocercus lowii (Scandentia, Tupaiidae) and its implications for primate supraodial relationships. In: Ravosa, M.J., Dagosto, M. (Eds.). Primate origins. Adaptations and Evolution. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York. S. 51-81.
Silcox, M.T. 2007. Primate Taxonomy, Plesiadapiforms and approaches to primate origins. In: Ravosa, M.J., Dagosto, M. (Eds,). Primate origins. Adaptations and Evolution. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, New York. S. 143-178.
Wible, J.R., Covert, H. H. 1987. Primates: cladistic diagnosis and relationships. J. Hum. Evol. 16, 1-22.



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