22.09.2010

Wohin mit Ida?

Im letzten Jahr gab es ja einige Aufregungen um „Ida“, einem aus der Grube Messel bei Darmstadt stammenden Affenfossil, das durch eine unsäglich dämliche Medienkampagne als in der direkten Vorfahrenschaft des Menschen stehend dargestellt wurde.

Hat man sich die Mühe gemacht, die tatsächliche Publikation (die bei PLoS-Online erschienen und daher für jeden zugänglich ist) zu lesen, so stellt sich heraus, das „Ida“, oder Darwinius massilae wie das gute Stück wissenschaftlich heißt, dort als in der Stammlinie bzw. in die nähere Verwandtschaft der heutigen „Trockennasenaffen“ gestellt wird, zu denen unter anderem auch wir zählen. Das die Autoren nur relativ wenig unternommen haben um diesen „missing Link“ Blödsinn zu relativieren lassen wir jetzt einfach mal so stehen.
Vielmehr möchte ich mich um die wissenschaftliche Diskussion des Fundes kümmern, denn dort ging es in den letzten Monaten doch relativ rund.


Ida gehört der Familie der „Adapoidea“ an. Dies war eine Gruppe von Primaten die vor allem im Eozän (55-35 MYA) gelebt haben und dort über ganz Europa, Asien, Nordamerika und wohl auch Afrika verbreitet waren.
Gemeinhin wurden die Adapoidea in eine nähere Verwandtschaft zu den heutigen Feuchtnasenaffen (Lemuren und Loris) gestellt, wohingegen die andere große Gruppe eozäner Primaten, die Omomyioidea (ich hoffe ich hab die jetzt richtig geschrieben) in eine nähere Verwandtschaft zu den Trockennasenaffen gestellt wurden.


Diese Interpretation wurde nun durch „Ida“ herausgefordert. Denn Ida ist zwar ein Adapide, hat aber einige Merkmale, wie sie auch heutige Trockennasenaffen besitzen.


Im Laufe des vergangenen Jahres kamen nun zwei Artikel raus, die eben diese ursprüngliche Interpretation  angegriffen haben. Die erste „Attacke“ kam von Erik Seiffert, der in Afrika ebenfalls einen adapiden Primaten (Afradapis longicristatus) fand, der ebenfalls Merkmale mit frühen Trockennasenaffen gemeinsam hat. Allerdings platzierte eine phylogenetische Analyse die Seiffert und Kollegen durchgeführt haben, die gesamten Adapoidea (inklusive Ida) nicht in nähere Verwandtschaft zu den Trockennasenaffen sondern zu den Feuchtnasenaffen. Dies würde bedeuteten, dass die von den ursprünglichen Autoren als Synapomorphien gedeuteten Merkmale in Wirklichkeit Homoplasien sind. Zudem argumentierten Seiffert und Kollegen, dass bestimmte Merkmale über die Ida verfügt (z.B. einen komplett verwachsenen Unterkiefer) bei frühen Vertretern der Trockennasenaffen noch gar nicht vorhanden waren.
Im März dieses Jahres, waren dann Blythe Williams und Kollegen am Zug. Sie sagen, das die Merkmale die benutzt wurden um Ida als Trockennasenaffen zu definieren keine große Aussagekraft besitzen, da sie sowohl bei einigen Trocken- als auch bei einigen Feuchtnasenaffen vorkommen und somit wohl mehrmals unabhängig voneinander entstanden bzw. ursprünglicher natur sind. Zudem kritisieren sie, dass die ursprünglichen Autoren keinerlei Vergleiche zu fossilen Trockennasenaffen angestellt haben, sondern Ida nur mit rezenten Formen verglichen haben.


Betrachtet man sich diese Einwände, so scheint es nicht sehr gut um die „Ida ist ein Trockennasenaffe“- Hypothese zu stehen.


Seit kurzer Zeit gibt es allerdings eine Antwort der ursprünglichen Ida-Beschreiber auf die Vorwürfe. Zu lesen in den Vorabveröffentlichungen des „Journals of human Evolution“. Dort versuchen die Autoren die einzelnen Vorwürfe an ihre ursprüngliche Interpretation zu entkräften, was ihnen eher leidlich gelingt. Sie können zwar aufzeigen, dass die von Seiffert et al. (2009) vorgestellte phylogenetische Analyse statistisch nicht signifikant ist, doch ist die restliche Argumentationsdecke ziemlich dünn.


Die von Williams et al. geäußerten Vorwürfe werden mit relativ wagen Entgegnungen beantwortet, so wie dieser hier:


Claws or grooming claws absent (character 25)


Claws or grooming claws on the pes change from present to absent between nodes 13 and 12 in the phylogram of Figure 2. Thus the loss of grooming claws and acquisition of nails on all digits in Darwinius is appropriately counted as a derived characteristic shared with Haplorhini. The presence of nails on all pedal digits in all anthropoid families except Callitrichidae contrasts with retention of claws or grooming claws in other primates (outgroup Tupaioidea, proprimate Plesiadapoidea, Lemuroidea, Lorisoidea, and Tarsioidea). Thus, contrary to Williams et al. (2010), we cannot imagine (meine Betonung) nails on all digits to be primitive for primates (these are again conceivably convergent, but not primitive). (Gingerich et al., 2010, S. 5).




Der Passus “We cannot imagine” kommt noch mal an einer anderen Stelle vor.
Ich bin zwar ein Freund von Fantasie und Vorstellungskraft in der Wissenschaft, doch wenn ich für oder gegen etwas auf wissenschaftlicher Ebene argumentieren will, so ist ein Argument was ich mit „we cannot imagine“ beginne, schlichtweg irrelvant. Schließlich kann man sich ja alles mögliche Vorstellen oder nicht vorstellen. Wichtiger wäre es zu gucken, wie denn nun die Faktenlage hier aussieht.
Welche Primaten haben Putzkrallen? Welche nicht? Sind die Putzkrallen der einzelnen Formen an den gleichen Fingern? Sind sie aus den gleichen Strukturen aufgebaut? Wenn ich ein Merkmal als ursprünglich klassifizieren will, muss ich sicher gehen, dass es auch tatsächlich ursprünglich ist. Nur weil die meisten Feuchtnasenaffen eine Putzkralle haben, und die in ihren sonstigen Merkmalen ziemlich ursprünglich sind, heißt das noch lange nicht das sie als Rohmodell für alle ursprünglichen Primaten gelten. Dies ist ein Fall von Stufenleiterdenken und deshalb einfach falsch.




Ein weiterer Punkt der mich ganz persönlich stört ist phylogenetische "Analyse" die sie durchgeführt haben:

Gingerich et al. (2010)
 




















Wie man sehen kann, ist Ida hier das Schwestertaxon aller Anthropoidea, also aller Alt- und Neuweltaffen. An diesem Stammbaum stören mich zwei Dinge:

Nummer 1: Es wurden erneut, mit Ausnahme von der guten Ida, nur rezente Arten in der Analyse verwendet. Wenn Ida ein Stammvertreter der Trockennasenaffen ist, wo sind dann die Vergleiche zu anderen frühen Trockennasenaffen? Und wenn Ida noch immer zu den Adapoidea gehört, wieso werden dann nicht noch andere adapide Primaten in die Analyse miteinbezogen? Die von Gingerich und Kollegen dargestellte Analyse sagt momentan nur aus, dass wenn man Darwinius massilae, mit anderen rezenten Arten vergleicht, es eine Schwestergruppe mit den rezenten Trockennasenaffen bildet.
Begründet wurde die Wahl der Taxa übrigens damit, dass man eine möglichst geringe Anzahl an Taxa für die Analyse benutzen wollte. Zu viele Taxa können tatsächlich unter umständen zu falschen Stammbaumhypothesen führen. Aber auch hier bleibt die Frage: Wieso nur eine fossile Form? Wieso mit Ida nur ein Vertreter der Adapoidea? Diese ganze Sache kommt mir so ein bisschen wie ein „Selection bias“ vor. Ich beziehe einfach nur die Formen in meine Analyse ein, die meine vorgefertigte Meinung unterstützen.

Das zweite was mich stutzig macht, ist das sich „Ida“ zwischen die Anthropoidea und die Tarsier gemogelt hat. Die Tarsier (Koboldmakis) sind eine äußerst schwierige Gruppe, wenn es darum geht Primatenstammbäume zu generieren. Das hat damit zu tun, dass sie einen sehr langen Ast haben, was bedeutet, dass sie eine lange, von anderen Primaten unabhängige, Stammesgeschichte haben. Aus diesem Grunde bin ich immer etwas skeptisch, wenn sich ein Taxon zwischen die Tarsier und die anderen Trockennasenaffen mogelt, da es in der Vergangenheit schon ziemlich häufig Probleme an genau dieser Stelle gab. Natürlich ist das kein wirkliches Argument, aber ich denke man sollte bei solch problematischen Taxa immer besonders vorsichtig sein, wenn es ans Interpretieren der Daten geht.

Kommen wir mal zum Abschluss der ganzen Sache:
Betrachtet man sich die ganze Diskussion so erscheint mit die Argumentationskette sowohl im originalem Artikel von Franzen et al. (2009) als auch bei der neuen Publikation von Gingerich und Kollegen (2010) bei weitem nicht so eindeutig, wie sie es darstellen. Wir wissen noch viel zu wenig über die frühe Radiation der Primaten und wie ihre ursprüngliche Merkmalskonfiguration war, als das wir jetzt schon mit hoher Sicherheit sagen zu können, wo genau Ida sich denn jetzt im Primatenstammbaum platzieren sollte. Hinzu kommen noch eine ganze Reihe Probleme, welche phylogenetische Stammbaumrekonstruktionen, speziell wenn sie fossile Formen beinhalten, grundsätzlich mit sich bringen. Ich persönlich bin eher auf der Seite von derjenigen, die Ida und die gesamten Adapoidea eher in näherer Verwandtschaft zu den Feuchtnasenaffen sehen, ganz einfach weil diese Seite die wesentlich schlüssigeren Argumente vorzuweisen hat.


Das heißt aber nicht, dass man diese Position nicht herausfordern sollte, so wie es die Erstbeschreiber von Ida tun. Allerdings sollten sich doch mit wesentlich handfesteren Argumenten kommen als „wir können uns nicht vorstellen, dass...“ und quasi wertlosen phylogenetischen Analysen.





Literatur:

Franzen JL, Gingerich PD, Habersetzer J, Hurum JH, von Koenigswald W, & Smith BH (2009). Complete primate skeleton from the Middle Eocene of Messel in Germany: morphology and paleobiology. PloS one, 4 (5) PMID: 19492084

Gingerich, P., Franzen, J., Habersetzer, J., Hurum, J., & Smith, B. (2010). Darwinius masillae is a Haplorhine — Reply to Williams et al. (2010) Journal of Human Evolution DOI: 10.1016/j.jhevol.2010.07.013

Seiffert, E., Perry, J., Simons, E., & Boyer, D. (2009). Convergent evolution of anthropoid-like adaptations in Eocene adapiform primates Nature, 461 (7267), 1118-1121 DOI: 10.1038/nature08429

Williams, B., Kay, R., Christopher Kirk, E., & Ross, C. (2010). Darwinius masillae is a strepsirrhine—a reply to Franzen et al. (2009) Journal of Human Evolution DOI: 10.1016/j.jhevol.2010.01.003