09.12.2010

Was wurde eigentlich aus Sahelanthropus tchadensis? (Teil 2: Schlussfolgerungen)

Ich habe meinen letzten längeren Post  ja etwas kryptisch beendet und habe deshalb noch ein paar Erklärungen nachzuholen.


Schauen wir uns hierzu zunächst folgende Abbildung an:

Zeitliche Einordnung der frühsten möglichen Hominidenformen. Das rote Oval zeigt den molekulargenetisch Bestimmten Zeitraum der Divergenz von Mensch und Schimpanse an. (Die Striche stehen für jeweils 2 Mio. Jahre). (Bilder aus Johanson & Edgar, 2006 u. Suwa et al., 2009)


Wir sehen hier eine Zeitleiste mit den frühsten möglichen Hominiden (außer Ar. ramidus kaddaba), das Oval kennzeichnet den Zeitraum der von der Molekulargenetik als der Zeitraum bestimmt in dem sich die Linien von Mensch und Schimpanse getrennt haben. Was wir hier sehr schön sehen können, ist dass diese drei Fossilien, mehr oder weniger, voll in diesem Zeitraum drin liegen.
Das ist zunächst einmal toll, denn wir sind auf jeden Fall in der Region wo sich die Linien von Mensch und Schimpanse getrennt haben und damit auch sehr nah am letzten gemeinsamen Vorfahren (LGV). Das bedeutet auch, dass diese frühen Formen in ihrer Morphologie diesem letzten gemeinsamen Vorfahren sehr ähnlich sein dürften. Dieser Punkt macht die taxonomische Einordnung dieser Fossilien jedoch enorm schwierig. Wie ich hier dargestellt habe, besitzen ursprüngliche Merkmale keinen Wert, wenn es darum geht einen Organismus taxonomisch einordnen zu können. Wenn ich jetzt, wie in dem Fall von Sahelanthropus, ein Fossil habe, was möglicherweise dem LGV sehr ähnlich war, so bedeutet dies, dass es noch viele ursprüngliche Merkmale mit diesem gemeinsam hat und sehr wahrscheinlich nur wenige abgeleitete Merkmale haben dürfte die für eine taxonomische Einordnung von Bedeutung sind. Das Bedeutet, dass ich sehr wahrscheinlich nur ganz schwer in der Lage bin, dieses Fossil überhaupt irgendwo einordnen zu können:

Das Problem der taxonomischen Einordnung der frühsten möglichen Hominiden: Es ist praktisch unmöglich sicher sagen zu können, ob sich ein Fossil auf der Stammlinie zum Menschen (A), auf der Stammlinie zum Schimpansen (B), kurz vor der Trennung von Mensch und Schimpanse (C), oder gar auf der Stammlinie zum Gorilla (wie es z.B. für Sahelanthropus tchadensis teilweise angenommen wird) (D) befindet.


Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Cobb (2008) als er versuchte die Morphologie des Gesichtsschädels de LGV zu rekonstruieren:

„(...)  it is not possible to determine with any confidence whether any of them is the LCA , or a stem taxon in either lineage, or a member of an extinct, and until now unrecognized, hominid lineage.” (Cobb, 2008; S.482).


Das bedeutet, wenn wir uns das alles ganz nüchtern betrachten, dass wir uns über keine dieser Formen sicher sein können, dass sie tatsächlich auf der Stammlinie zum Menschen stehen.

Und nun kommen wir endlich zum eigentlich Sinn des Posts: Wir mögen zwar nicht mit Sicherheit sagen können, wo genau wir diese Fossilen jetzt taxonomisch einordnen können, doch helfen sie uns auf jeden Fall dabei, den Zeitraum um die Trennung der Linien von Mensch und Schimpanse besser auflösen zu können. Sie helfen mir, die Morphologie des LGV besser rekonstruieren zu können, die helfen mir besser die ursprüngliche ökologische Nische der Hominiden besser rekonstruieren zu können und sie helfen mir besser zu verstehen, welche Bedingungen letztendlich zur Aufspaltung der Linien von Mensch und Schimpanse geführt haben könnten.
Natürlich mag es erstmal nicht so spektakulär klingen, wenn ich ein Fossil beschreibe und am Ende den Schluss ziehe „es ist zwar Hominidenähnlich, aber irgendwo sind wir uns da nicht so sicher“, doch würde eine solche Schlussfolgerung vermutlich viel eher der Wahrheit entsprechen.


Das alles mag sich jetzt nicht wirklich optimistisch anhören, aber wir können diese Problematik auf jeden Fall etwas entschärfen, wenn endlich mal irgendwelche nennenswerten Fossilien möglicher Schimpansen- und Gorillavorläufer gefunden würden.
Wir wissen im Grunde genommen nichts über die Evolution der Schimpansen und Gorillas, ganz im Gegenteil zu dem was wir über die Evolution unserer eigenen Art wissen (bzw. meinen zu wissen).
Dieser Punkt wird in aller Regel damit abgetan, dass sich in Regenwäldern (dem gewöhnlichen Habitat von Schimpansen und Gorillas) kaum Fossilien erhalten. Das mag zwar richtig sein, aber es wurde bislang ja kein ernsthafter Versuch unternommen trotzdem welche zu finden.
Wir haben deshalb so gute fossile Aufzeichnungen unserer eigenen Stammlinie, weil es in den letzten 40 Jahren riesige Anstrengungen gab, neue Fossilien zu finden. Hätte es diese Anstrengungen nicht gegeben, hätten wir heute auch nicht diese ganzen Fossilien. Das bedeutet im Gegenzug auch, dass ich, wenn ich nicht nach Gorilla- und Schimpansenfossilien suche, sehr wahrscheinlich auch kaum welche finden werde.

Esteban Sarmiento  (2010 S.1105b ) hat dies in ihrer Kritik an Ardipithecus ramidus etwas spitzfindiger ausgedrückt:


“ (...)it is curious that in a century-old race for superlative hominid fossils on a continent currently populated with African apes, we consistently unearth nearly complete hominid ancestors and have yet to recognize even a small fragment of a bona fide chimpanzee or gorilla ancestor.”


Ich persönlich würde einen fossilen Schimpansen übrigens wesentlich spektakulärer finden als den nächsten bahnbrechenden Superhominiden. Aber gut, letztendlich wäre es ja schließlich doch "nur ein Affe".

Aber sind wir das nicht auch?


Literatur:

Cobb, S. (2008). The facial skeleton of the chimpanzee-human last common ancestor Journal of Anatomy, 212 (4), 469-485 DOI: 10.1111/j.1469-7580.2008.00866.xSarmiento, E. (2010). Comment on the Paleobiology and Classification of Ardipithecus ramidus Science, 328 (5982), 1105-1105 DOI: 10.1126/science.1184148

Bildquellen:

Johanson D., Edgar, B. (2006). From Lucy to language. Simon and Schuster, New York

Suwa G., et al. (2009). The Ardipithecus ramidus Skull and Its Iimplications for Hominid Origins. Science 326, 68.