08.05.2014

Über Relevanz

Ein nostalgieverklärter Blick auf die alte Hässlichkeit




Ich bin irrelevant.


Stolz ist eine merkwürdige Sache. Da predigt man permanent, dass Menschen nicht immer ihr eigenen Ego in den Weg von Veränderungen stellen sollten, doch wenn das Gefühl nicht mehr wichtig zu sein einen selbst trifft, ist das Einhalten eigener Maßstäbe plötzlich doch schwerer als angenommen.

Wie jeder Studiengang in Deutschland, so hat auch der Anthropologiestudiengang in Mainz einen starken Wandel in den letzten Jahren durchlaufen. Allerdings ist es nicht nur die Änderungen des Abschlusses selbst (der Magister wurde durch einen Master ersetzt), er betrifft auch den Kern der Lehre und damit auch die 'Botschaft' die von dem Institut ausgeht.

Nichts verdeutlicht diesen Wandel mehr, als die Veränderungen des Instituts selbst.

Die längste Zeit meines Studiums, war das Institut für Anthropologie im "Sonderbau II" auf dem Mainzer Unikampus verortet. Ein grauer Klotz aus den 60er oder 70er Jahren, ursprünglich dafür gedacht als eine Art Zwischenlösung für Institute und Arbeitsgruppe zu dienen, für die noch kein echter Platz gefunden wurde. Wie üblich in diesen Fällen wurde aus der Zwischenlösung jedoch schnell eine Dauerlösung.
Das Institut selbst was muffig, die Wände (wenn man sie als solche bezeichnen möchte) dünn und für das erste Drittel meines Studiums war ich nur sehr ungerne dort. Zuviel erinnerte mich an meine alten Schulen, vor allem der Teppichboden.

Was dieses Institut jedoch auch hatte war eine wunderschöne Bibliothek. Nicht vom ästhetischen her, ich spreche von den Büchern. Alte Bücher über die Evolution des Menschen haben immer etwas kurioses an sich. Nicht nur, dass sie veraltete wissenschaftliche Hypothesen beinhalten, sie spiegeln in der Anthropologie auch stark den Wandel des Menschenbildes selber wider. Ich mag altes Wissen, eben wegen seiner Geschichtlichkeit. Man kann an ihm den Lernprozess sehen den eine Wissenschaft durchmacht, man kann in ihm für die Gegenwart relevante Information wieder entdecken, oder man kann ungläubig den Kopf schütteln ob der heutzutage sehr abenteuerlich erscheinenden Vorstellungen der Autoren.
Irgendwann, als ich häufiger noch gegen Abend an der Uni war und die Busse die zu mir nach Hause fuhren immer übermäßig voll waren (ich hasse volle Busse), habe ich angefangen einfach Bücher aus dem Regal zu nehmen und zu lesen. Das Lesen wurde irgendwann zu einer leichten Obsession. Ich las nicht, weil ich etwas lernen wollte, oder weil ich dachte, dass das Wissen einen praktischen Wert erfüllen sollte. Ich hatte Fragen und wollte mir diese beantworten. Ich bin noch immer der Meinung das die schönste Form des Wissens die ist, in der das Wissen selbst keinen Zweck erfüllt außer zu existieren. Das Gefühl Dinge zu verstehen und sei es nur für mich selbst, ist mit eines der großartigsten Gefühle überhaupt. Ich weiß was einen Primaten definiert. Ich weiß wie Evolution funktioniert. Ich weiß was Kreativität ist.
Das schöne an der Institutsbibliothek waren nicht nur die Informationen die in ihr drinsteckten, sondern auch die Art wie sie aufgebaut war. Ein Großteil der Büros der Dozenten und Doktoranden lagen nämlich innerhalb der Bibliothek. Es war ein permanenter Betrieb und man kam immer wieder mit Dozenten oder anderen Mitarbeitern ins Gespräch.
Mein Eindruck ist sicherlich verklärt, vor allem weil sich diese Eindrücke auf eine für mich persönlich sehr schöne Zeit beschränken, doch ich hatte dort immer Eindruck Teil des Instituts selbst zu sein, nicht nur einfach der Rezipient einer Bildungsdienstleistung.
Wie oft ist es in anderen Studiengängen der Fall, dass man als Student spontan mit dem Leiter des Instituts in ein Gespräch über die Umstrukturierungen des Studiengangs kommen kann?

Ich hatte ein immenses Glück in einem solchen Umfeld studieren zu können, ebenso hatte ich Glück was die Struktur meines Studienganges anging.

Die vier Professoren die an dem Institut beschäftigt waren (zwei davon sind mittlerweile im Ruhestand) deckten jeweils ein spezifischen Gebiet ab. Dies führte dazu, dass der Studiengang so strukturiert war, dass man nicht nur die Grundlagen jedes Teilgebiets der Anthropologie gelernt hat. Es gab auch die Möglichkeit sich in jedes Teilgebiet zu spezialisieren.
Ich bin in der Lage an menschlichen Überresten Geschlecht und Alter bestimmen zu können, ich kann Primaten anhand ihrer Knochen taxonomisch einordnen, ich haben einen tiefen Einblick in die Evolution unseres Verhaltens bekommen und ich wäre (rein theoretisch) sogar in der Lage in einem Labor genetische Untersuchungen durchführen und die Ergebnisse einordnen zu können.
Wenn ich etwas über die Evolution morphologischer Merkmale lese, denke ich gleichzeitig über die ihnen zugrunde liegenden genetischen Mechanismen nach. Spricht eine Person über die Evolution menschleichen Verhaltens, kann ich sofort einschätzen, inwiefern diese Person Mist erzählt oder nicht.
Der Aufbau meines Studienganges gab mir die Möglichkeit ein Netz aus Wissen zu spinnen, in das alles was ich jetzt lese und höre hineinfällt und eingeordnet wird.

Es kann sein, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich ein Sonderfall bin. Ich habe ohnehin die Fähigkeit Wissen und Informationen wie ein Schwamm aufsaugen zu können. Allerdings bin ich trotzdem der festen Überzeugung, dass mein Studiengang vom Angebot her sehr nahe am Ideal eines Studienganges zur biologischen Anthropologie war.

Gerade nachts ist der Neubau ganz hübsch anzusehen.
Das ist jetzt nicht mehr der Fall.
Die Veränderungen die stattfanden gingen zwar schon ein paar Jahre früher los. Jedoch verdeutlicht nichts diese Veränderungen stärker als der Neubau des Instituts, der im vergangenen Jahr eröffnet wurde.
Ein hochmodernes, sauberes Gebäude mit modernen Labors und direkt am botanischen Garten liegend. Es war sogar für irgendeinen Architekturpreis nominiert, ob es gewonnen hat weiß ich jedoch nicht.
Es ist klimatisiert und ultra-umweltfreundlich. Klar, die Rollläden spinnen manchmal, aber dafür sind die Toiletten so sauber, dass sie sogar für längere Aufenthalte geeignet sind.

Die Bibliothek? Auf einen Handapparat reduziert. Die restlichen Bücher befinden sich in einer Reihe an Regalen in der Bibliothek der Rechtswissenschaften. Nun sitzen Menschen, die sich durch Berge aus banalen Verwaltungsrechtsfragen wühlen direkt neben Büchern in denen sich Personen irgendwann einmal sehr intelligent über unseren Ursprung ausgelassen haben. Das und mehrere Jahrgänge von Zeitschriften über Eugenik (später in 'Humangenetik' umbenannt).
Eine gefühlte räumliche Nähe von Studenten und Dozenten gibt es nicht mehr. In der Tat gibt es innerhalb des Instituts gar keine Räumlichkeiten mehr, in denen sich Studenten treffen können.
Es ist ein Betrieb geworden. Effizient, sauber, hell, gleichzeitig aber auch anonym und distanziert.

Es passt perfekt zum neuen Master Studiengang.
Statt des Luxus sich im Grunde in jedes Teilgebiet spezialisieren zu können, gibt es nun einige grundsätzliche Kurse und ein Überangebot an genetischen Spezialisierungen. Die Morphologie ist so gut wie vollständig verschwunden und war es für mich bereits mit großen Schwierigkeiten verbunden eine Arbeit mit morphologischem Schwerpunkt zu verfassen, so ist dies nun unmöglich.

Nun sollte man mich nicht falsch verstehen: Unter den momentanen Umständen ist diese Form von Studiengang vermutlich praktikabel und Zukunftssicher. Man kann sogar froh sein(und irgendwo bin ich es auch), dass dieses Institut nicht nur weiter existiert, sondern auch noch einen modernen Neubau bekommen hat.

Aber es ist nicht mehr mein Zuhause.
Das Gefühl irrelevant zu sein ist nicht schön. Das Gefühl zu haben, dass die eigenen Vorstellungen und Ideale nicht mehr von Wert zu sein scheinen, ist niederschmetternd.
Doch letzten Endes ist es eine Sache des Egos. Meine Vorstellungen werden dort nicht mehr repräsentiert. Die Dinge, von denen ich gelernt habe, sie seien für einen Anthropologen wichtig, finden dort nur am Rande statt. Nur weil ich so denke, heißt es noch lange nicht, dass der neue Studiengang und der Neubau des Instituts die Endzeit für die Anthropologie einläuten werden (diese läuft schon seit 30 Jahren).
Wenn man merkt irrelevant zu sein, hat man zwei Möglichkeiten: Man kann über die Veränderungen wütend sein und mit aller Macht versuchen den Status Quo zu halten und letzten Endes doch verlieren. Oder man kann einsehen, wenn es keinen Sinn mehr ergibt gegen die Veränderungen anzukämpfen und sich stattdessen darauf konzentrieren, die Dinge die man selbst für wichtig hält weiterzutragen.

Ich würde mir trotzdem wünschen, dass Jurastudenten davon abgehalten werden, direkt neben Büchern zu sitzen deren Schönheit sie niemals werden begreifen können.