26.11.2010

Was wurde eigentlich aus Sahelanthropus tchadensis? (Teil 1: Beschreibung und Kritik)

Das ist eine wirklich gute Frage, schließlich liefert diese Art doch ein enormes Packet an spannenden Geschichten mit über die sich so vortrefflich diskutieren ließe, dass es wirklich einer Schande gleichkäme, wenn man dies nicht täte.


Fangen wir mit dem Fundort an. Anders als die meisten frühsten Hominidenformen (und Sahelanthropus ist bei weitestem die frühste von allen), ist diese Art nicht im Dunstkreis des Ostafrikanischen Grabenbruchs gefunden worden, sondern gute 2500 km westlich davon im Tschad. Diese simple Fakt, dürfte ziemlich viele Hypothesen über den Ursprung der Hominiden über den Haufen werfen, wenn, ja wenn Sahelanthropus denn auch wirklich ein Hominide ist.
Denn genau hier liegt das Problem, ein Problem was ich in einem meiner ersten Blogposts bereits aufgegriffen habe. Da mir dieser Post allerdings nicht mehr gefällt, werde ich an dieser Stelle nochmals etwas detailliert auf diese Geschichte eingehen.
Im Grunde genommen fußt Einordnung von Sahelanthropus zu den Hominiden auf zwei Säulen:

Der Morphologie und die Abnutzung des Eckzahns.

Der Annahme einer aufrechten Körperhaltung.



Schauen wir uns zunächst die Zähne an, bzw. den Eckzahn an:

Unterer rechter Eckzahn von Sahelanthropus tchadensis. (Brunet et al., 2005)
Ok, was ist jetzt so besonders an dem Teil? Nun, für einen Menschenaffen ist das Ding ziemlich klein. Wenn wir uns z.B. Schimpansen ansehen, dann sehen wir dort Eckzähne die die umliegenden Zähne um ein Vielfaches überragen. Charakteristisch für solch große Zähne ist ein so genannter „Zangenbiss“. Was das bedeutet, kann man auf dem folgenden Bild sehen:

 Henke &Rothe, 1994

Jedenfalls fehlen bei Sahelanthropus die Anzeichen für einen solchen Komplex, zudem sind die Eckzähne grundsätzlich relativ klein und ihr Abnutzungsmuster unterscheidet sich auch von dem heutiger Menschenaffen. Ein weiteres Indiz für die Annahme das Sahelanthropus ein Hominider ist, findet sich in der dicke des Zahnschmelzes, die genau zwischen der von heutigen Schimpansen und der von späteren Australopithecinen liegt.


Wie sieht’s mit der aufrechten Körperhaltung aus? Das Problem an der Sache ist, dass man keine Postkranialen Knochen gefunden hat, also keine Becken oder Oberschenkelfragmente, von denen man diese Sachen direkt ablesen könnte. Allerdings war man in der Lage man von der Orientierung und dem Winkel den das große Hinterhauptsloch (Foramen magnum), im Schädel einnimmt abschätzen, dass es wohl wahrscheinlicher gewesen ist, das Sahelanthropus aufrecht gegangen ist, als das er es nicht getan hat.

Winkel des Formamen magnum zur Augenhöhle. Nach Meinung der Autoren soll dieser ein Indiz für die Körperhaltung eines Individuums gewesen sein. (Zollikofer et al., 2005)
Hört sich doch soweit ganz gut an, Sahelanthropus ging wahrscheinlich aufrecht und auch in anderen Merkmalen unterscheidet er sich ziemlich stark vom Schimpansen.


Doch sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass die Evolution des Menschen keine Stufenleiter von einem Schimpansen über mehrere weitere „Zwischenformen“ hin zu uns verlief und das deshalb rezente Arten nur bedingt als direkte Vorbilder dienen können.
Außerdem habe ich bei der ganzen Beschreibung noch einen wichtigen Punkt bislang nicht erwähnt. Sahelanthropus soll männlich gewesen sein. Dies wurde aus dem ziemlich dicken Überaugenwulst (Torus supraorbitalis) geschlossen, den das Fossil aufweist.
Was ist an diesem Punkt so wichtig, mag man sich fragen? Nun, wenn wir uns die Eckzähne ansehen, so sind sie klein, für ein männliches Individuum. Wäre Sahelanthropus weiblich so läge die Größe des Eckzahns so ziemlich in dem Bereich den man auch bei anderen weiblichen fossilen Menschenaffen beobachten konnte.

Wie wir also sehen können ruhen 50% der Annahme, dass Sahelanthropus tchadensis ein Hominide auf der Bestimmung seines Geschlechts. Da wir bislang leider nur einen Schädel von Sahelanthropus kennen, wissen wir nicht wie stark die Größe des Torus supraorbitalis geschwankt hat, also sollte wir, um abschätzen zu können wie gut sich dieses Merkmal eignet um eine Geschlechtsbestimmung durchführen zu können, mal ansehen wie sich der Kram bei rezenten Menschenaffen verhält:

 

Breite des Torus supraorbitalis bei rezenten Menschenaffen, Australopithecinen und Sahelanthropus tchadensis. (Brunet et al., 2002; modifiziert)


Das sieht irgendwie nicht so gut aus. Selbst bei so stark sexualdimorphen Arten wie dem Gorilla, überlappt die Größe des Torus supraorbitalis bei Männchen und Weibchen ziemlich stark. Das bedeutet im Gegenzug, dass dieses Merkmal im Grunde für eine Geschlechtsbestimmung an einem einzelnen Individuum bei einem komplett neuen Taxon vollkommen ungeeignet ist.


Dies war auch der Schluss, den Milford Wolpoff und Kollegen 2006 in ihrer ausführlichen Kritik der Sahelanthropus Zuordnung gezogen haben (Der Artikel ist übrigens frei verfügbar).
Im weiteren Verlauf des Artikels zeigen sie, in meinen Augen recht überzeugend, Stück für Stück auf, dass keines der ursprünglich zu Klassifikation von Sahelanthropus herangezogenen Merkmale tatsächlich Aussagekräftig ist. Entweder sind die Merkmale ursprünglich (bei einigen miozänen Menschenaffen finden sich ähnliche Abnutzungsmuster der Eckzähne und auch ein Zangenbiss ist nicht vorhanden), oder sie sind höchst Zweifelhaft (Orientierung des Foramen magnum).

Das war übrigens nicht der erste Anlauf von Wolpoff und seinen Kollegen. Bereits kurz nach der Beschreibung von Sahelanthropus veröffentlichten sie einen Kommentar in Nature der die ursprüngliche Interpretation kritisierte. Dieser wurde, auch relativ überzeugend von Michel Brunet beantwortet. Es wäre also zu erwarten, dass auf diese wirklich fundamentale Kritik eine ebenso fundamentale Antwort folgt, nicht wahr?
Bislang habe ich folgendes dazu gefunden, ich zitiere wörtlich:


„Scientifically it is impossible to understand why some authors ignore these derived characters and concentrate on primitive ones to reach the conclusion that S. tchadensis is related to modern apes and even more precisely to a palaeogorilla (Wolpoff et al. 2002, 2006; Pickford 2005). This attempt to undermine the clear affinity of the Chadian hominid is curious mainly when it is coming from, among others, two who have not yet had the opportunity to check Toumaı¨ casts in their laboratory. Is it what they believe, or is it only because they want to keep Orrorin as the earliest hominid?" (Brunet, 2010, S.3318)


Also irgendwo ist das doch etwas enttäuschend oder? Es ist vor allem deshalb enttäuschend, weil Herr Brunet in dem Artikel aus dem dieses Zitat stammt, kurz vorher die gleichen, angeblich abgeleiteten, Merkmale erwähnt hat, die Wolpoff und Kollegen kritisiert haben. Und statt sich die Mühe zu machen, die Kritik wissenschaftlich zu beantworten wird auf die Tatsache hingewiesen, dass zwei der fünf „Kritiker“ an der Beschreibung des nächsten Kandidaten für den Titel „frühster bekannter Hominider“ beteiligt waren.


Dies, werte Leser, ist keine Antwort, dies ist der Kindergarten der sich „Paläoanthropologie“ nennt. Man könnte Herrn Brunet genauso Selbstzweck unterstellen wie Martin Pickford und Brigitte Senut (die beiden Autoren um die es geht), denn schließlich hat er eine Menge Zeit und Engagement in seine Grabungsexpeditionen im Tschad investiert und Geld gibt es sicher auch reichlich, wenn man ein solches Fossil findet.


Es ist schwierig in diesem Zusammenhang von einer Debatte zu sprechen, wenn eine Fraktion dieser Debatte anscheinend kein Interesse daran hat sie weiterzuführen. Und so lange nichts Neues bekannt wird, bin ich der Meinung man sollte Sahelanthropus aus den Hominiden ausschließen.
Das bedeutet noch lange nicht, dass das Fossil dann seinen wissenschaftlichen Wert verliert. Was ich genau damit meine, werde ich in meinem nächsten Post darlegen.


Literatur:
Brunet, M., Guy, F., Pilbeam, D., Lieberman, D., Likius, A., Mackaye, H., Ponce de León, M., Zollikofer, C., & Vignaud, P. (2005). New material of the earliest hominid from the Upper Miocene of Chad Nature, 434 (7034), 752-755 DOI: 10.1038/nature03392
Brunet, M., Guy, F., Pilbeam, D., Mackaye, H., Likius, A., Ahounta, D., Beauvilain, A., Blondel, C., Bocherens, H., Boisserie, J., De Bonis, L., Coppens, Y., Dejax, J., Denys, C., Duringer, P., Eisenmann, V., Fanone, G., Fronty, P., Geraads, D., Lehmann, T., Lihoreau, F., Louchart, A., Mahamat, A., Merceron, G., Mouchelin, G., Otero, O., Campomanes, P., De Leon, M., Rage, J., Sapanet, M., Schuster, M., Sudre, J., Tassy, P., Valentin, X., Vignaud, P., Viriot, L., Zazzo, A., &Zollikofer, C. (2002). A new hominid from the Upper Miocene of Chad, Central Africa Nature, 418 (6894), 145-151 DOI: 10.1038/nature00879
Brunet, M. (2010). Two new Mio-Pliocene Chadian hominids enlighten Charles Darwin's 1871 prediction Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences, 365 (1556), 3315-3321 DOI: 10.1098/rstb.2010.0069
Henke, W., Rothe, H. (1994). Paläoanthropologie. Springer Verlag, Berling Heidelberg, New York
Wolpoff, M. H., Hawks, J., Senut, B., Pickford, M., & Ahern, J. (2006). An Ape or the Ape: Is the Toumaï Cranium TM 266 a Hominid? Paleoanthropology, 36-50
Zollikofer, C., Ponce de León, M., Lieberman, D., Guy, F., Pilbeam, D., Likius, A., Mackaye, H., Vignaud, P., & Brunet, M. (2005). Virtual cranial reconstruction of Sahelanthropus tchadensis Nature, 434 (7034), 755-759 DOI: 10.1038/nature03397

11.11.2010

Ich muss mal etwas pöbeln.

Ich hatte letzten Dienstag das zweifelhafte Privileg mir einen Vortrag von Ulrich Kutschera (Titel: „Tatsache Evolution, was Darwin noch nicht wusste“) anzuhören. Naja, es war eigentlich kein Vortrag, sondern vielmehr eine Predigt. Eine Predigt, die gefühlt alle zwei Minuten entweder mit einem Verweis des Predigers auf irgendeinen von ihm verfassten Nature/Science Artikel oder auf die Tätigkeiten des Predigers als Gastdozent an der Stanfort University unterbrochen wurde.



Abgesehen von diesen nar(r)zistischen Ausflügen des Predigers ging es in der Predigt um einen ziemlichen Rundumschlag über die Evolutionstheorie und darum, was Darwin denn noch so abseits seiner „Entstehung der Arten“ so geschrieben hat.
Ich will mich jetzt nicht mit allen Details aufhalten, kurz gesagt: Es war furchtbar, vom Anfang bis zum Ende.


Nicht nur, dass Herr Kutschera einen, in meinen Augen, furchtbaren Vortragstil hatte inklusive eines Egos, dass zwei Drittel des Raumes einzunehmen schien und er zudem auch noch ziemlich arrogant auf die Publikumsfragen geantwortet hat, nein er hat auch noch fachliche Fehler begangen.


So sprach er beispielsweise immer wieder von „fossilen Zwischenformen“. Fossile Zwischenformen, oder „missing links“ wie man sie auch nennen könnte, gibt es nicht. Die Annahme, dass es fossile Zwischenformen auf den, zu den rezenten Arten führenden Stammlinien gibt, würde eine bestimmte Art von „Richtung“ in der Evolution implizieren. Doch habe ich ja zu Beginn dieser Woche gezeigt, dass es eben das neue an der Evolutionstheorie ist, dass es in der Natur keine Richtung und kein Ziel gibt. Jedes Fossil was wir finden ist keine „Zwischenform“ sondern ein, an bestimmte Bedingungen in der Vergangenheit angepasstes, Lebewesen. Alles was wir heutzutage feststellen können ist wie nahe verwandt, d.h. wie ähnlich diese fossilen Arten heutzutage lebenden Arten sind.

Ein weiterer Punkt der mich jetzt von anthropologischer Seite her aufregt ist, dass er behauptet hat, dass sich der Mensch aus einer „Schimpansenähnlichen Vorläuferart“ herausgebildet habe.
Irgendwie scheinen Personen, die versuchen Evolutionstheorie einem breiteren Publikum erklären zu wollen, immer die Stellen wo es um die Evolution des Menschen geht, nicht vernünftig darstellen zu können. Fakt ist, wir wissen nicht, wie der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse ausgesehen hat. Wenn wir uns Ardipithecus ramidus ansehen, so erscheint es sehr wahrscheinlich, dass er überhaupt nicht wie ein Schimpanse ausgesehen hat. Klar ist Ardipithecus noch etwas umstritten, aber einfach anzunehmen, der letzte gemeinsame Vorfahr von Mensch und Schimpanse sei „schimpansenähnlich“ impliziert wieder eine gewisse Form von Richtungs- bzw. Fortschrittsdenken, was so nicht in der Natur vorhanden ist.


Ein weiterer Punkt der mich massiv stört, ist das Wort „Tatsache“ in dem Titel des Vortrags (ein, nicht wirklich gutes, Buch von ihm trägt übrigens den gleichen Titel). Es gibt in den Naturwissenschaften keine „Tatsachen“, es gibt Hypothesen und Theorien, die mehr oder weniger gut gestützt sind. Warum gibt es keine Tatsachen? Weil ich mir niemals sicher sein kann ob das, was ich bislang herausgefunden habe, auch tatsächlich wahr ist. Die einzige Möglichkeit die ich habe, herauszufinden, ob etwas nicht stimmt, ist es zu widerlegen. Wenn ich jetzt aber behaupte eine wissenschaftliche Theorie entspräche einer Tatsache, so schließe ich von vorneherein jegliche Möglichkeit der Falsifikation aus und mache aus der Theorie im Grunde genommen eine Ideologie. Dies sind alles Dinge die man lernt, wenn man sich ein kleines bisschen mit Wissenschafts- und Erkenntnistheorie auseinandersetzt.

Ulrich Kutschera ist, soweit ich weiß, das lauteste Sprachrohr gegen den Kreationismus in Deutschland. Nur geht er bei dieser Sache komplett falsch vor. Statt zu versuchen Verständnis zu wecken, was die Evolutionstheorie eigentlich aussagt, versucht er Leute ideologisch zu indoktrinieren. Was er dabei ignoriert, ist dass ein solches vorgehen seinen „Gegnern“ voll in die Hände spielt. Häufig wird ja von Vertretern des „Intelligent Design“ behauptet, Evolutionsbiologie seien „dogmatisch“ und würden alternative „Theorien“ unterdrücken. Wenn jetzt Herr Kutschera mit seinem Buch/Vortragstitel „Tatsache Evolution“ durch die Lande tingelt, so gibt er genau diese Leuten recht!
Und wenn ich dann auch noch, wie Herr Kutschera, so arrogant bin und (sinngemäß) behaupte, dass Religionen für Leute Sinn machen, die so eher auf der Versagerseite des Lebens stehen, dann brauch ich mich nicht zu wundern, wenn ich am Ende das genaue Gegenteil von dem erreiche, was ich eigentlich möchte.

Kurzum, man sollte Evolutiontheorie "lehren" und nicht "predigen".



So, jetzt geht es mir wieder besser.


09.11.2010

Teleologie und Teleonomie

Wenn wir uns unsere Alltagsgegenstände betrachten, so ist relativ offensichtlich, dass diese in irgendeiner Form Zweckmäßig sind. Der Stuhl hat den Zweck, dass man sich auf ihn setzt und dementsprechend konstruiert. Eine Schere hat den Zweck Dinge zu schneiden und sofern man sie in der richtigen Hand hält (wie ich als Linkshänder schon früh gelernt habe) ist sie auch dafür konstruiert.



Betrachten wir uns lebende Organismen so scheint uns auch hier die Zweckmäßigkeit ins Gesicht zu springen: Der Herz ist dazu da um Blut zu pumpen, und das kriegt es auch in aller Regel hin. unser Becken ist für eine optimale Lastverteilung auf unsere zwei Beine ausgelegt usw. usf. All unsere Organe scheinen so aufeinander abgestimmt zu sein, dass auf dem ersten Blick an den heute vielgescholtenen Argumenten von Kreationisten und anderen Kreisen doch etwas dran zu sein scheint.
Und in der Tat, waren teleologische Weltbilder, also Weltbilder die von einer äußeren, immateriellen Zweckmäßigkeit der Natur ausgingen, lange Zeit kaum anfechtbar.


Kleine Information am Rande: Interessanterweise gab es im späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert eine geistige Strömung (die sog. „Physikotheologie“) die vom heutigen „Intelligent Design“ kaum zu unterscheiden ist.


Es gab zwar bereits im frühen 19. Jahrhundert Versuche von Materialisten und Naturwissenschaftlern, teleologische Welt- und Naturbilder zu widerlegen, aber mit Ausnahme von Kant, dem dies auf geisteswissenschaftlicher Ebene in seinem Buch „Kritik der Urteilskraft“ gelang, waren diese Erklärungsversuche noch zu schwach. Es gab einfach kein Modell, was diese scheinbare Zweckmäßigkeit der Natur erklären konnte, ohne dabei auf irgendwelche äußeren Einflüsse zurückgreifen zu müssen.


Dies änderte sich erst, nachdem Darwins „Entstehung der Arten“ erschienen ist. Statt irgendeines intelligenten Schöpfergottes oder irgendwelchen Vorstellungen, die Natur würde in eine bestimmte Richtung streben, trat nun das Zusammenspiel aus Zufall und Notwendigkeit. Die scheinbare Zweckmäßigkeit allen Lebens die wir beobachten ist im Grunde genommen da Ergebnis eines ewig andauernden Prozesses aus Versuch und Irrtum, dem erst durch natürliche Selektion eine Form von Richtung gegeben wird. Man könnte also sagen, dass Organismen nicht gewollt zweckmäßig sind, sondern vielmehr zweckmäßig geworden sind.
Der ganze Kram lässt sich auch etwas netter zusammenfassen, so wie es z.B. Werner Bröker (1991, S. 118) gemacht hat:


„Im Gegensatz zum planmäßigen Handeln eines Menschen aufgrund eines selbstgesteckten oder eines vorgegeben Zieles, verdankt das biologische Einzelphänomen seine Zielgerichtetheit, seine Zweckmäßigkeit einem Prozess der Evolution und/oder im individuellen Leben erlernten Programm, das wiederum selbst ein hierarchisch, strukturiertes System von Kausalbeziehungen repräsentiert; es wird nicht das Programm durch ein vorgegebenes, dem evolutiven Prozess externes Ziel bestimmt, sondern im Programm ist das Ziel durch den komplexen evolutiven Prozess selbst fixiert.“


Um diesen Bereich inneren Zweckmäßigkeit der Natur (also quasi eine interne Teleologie), vom Begriff der Teleologie besser trennen zu können, führte Colin Pittendrigh im Jahre 1958 den Begriff „Teleonomie“ ein.


Die Quintessenz aus dieser ganzen Sache heißt eigentlich, die Evolution hat kein Ziel, kennt kein Ziel und wird niemals ein Ziel haben. Genauso wenig entstehen auch Merkmale nicht, damit sie einen bestimmten Zweck erfüllen. Sie entstehen, weil sich bestimmte Individuen, die eine bestimmte Merkmalsausprägung haben die sie unter bestimmten äußeren Bedingungen dazu befähigt sich besser überleben zu können, sich besser Fortpflanzen. Dieser Prozess, über einen langen Zeitraum ausgedehnt führt zu einer Verstärkung der selektierten Merkmale und letztendlich zu einer, von außen betrachtet zweckmäßigen, Ausprägung eben dieser.
Aus naturwissenschaftlicher Sicht scheint alles klar zu sein, das Leben hat kein Ziel und keinen Zweck, es ist einfach da und wabert so vor sich hin, bis die Bedingungen auf der Erde so ungemütlich werden, dass kein Leben mehr möglich ist.


Stellt sich die Frag welche Auswirkungen das auf den Menschen hat. Aus rein naturwissenschaftlicher Sicht ist hier die Antwort klar: Wenn es keinen Zweck und kein Ziel von außen gibt, kann die Antwort nach dem Ziel und Zweck der menschlichen Existenz nur in jedem einzelnen Individuum liegen.
Wie schon gesagt, dies ist die naturwissenschaftliche Deutung des ganzen, vermutliche werden hier eine Reihe von Philosophen und ganz sicher eine Menge Theologen dem widersprechen, oder zumindest anmerken, dass ein naturwissenschaftliches Weltbild auch immer ein äußerst reduktionistisches Weltbild ist.


Aber ich habe ganz persönlich überhaupt kein Problem damit, wenn alle Existenz im Grunde sinnlos ist und ich mir meinen Sinn selbst wählen kann, natürlich nur gemäß des Falles ich bin überhaupt frei in meinen Entscheidungen, aber das ist ein komplett anderes Thema. Wichtig in dieser ganzen Diskussion nach dem Sinn und Zweck der eigenen Existenz ist doch, dass man überhaupt existiert und zudem noch dazu in der Lage ist, darüber nachdenken zu können.


So, mit diesem etwas kitschigen Abgang wollen wir es für heute mal genug sein lassen, ich hoffe ich konnte ein kleines bisschen die Tragweite aufzeigen, welche die Evolutionstheorie in letzter Instanz besitzen kann. Und vielleicht konnte ich auch ein, oder zwei Irrtümer über die Art und Weise wie Evolution abläuft (Stichwort: Fortschrittsdenken) ausräumen.





Literatur:
Bröker, W. (1991) Teleologie und Teleonomie. in: Scheffczyk, L (ed) Evolution. Probleme und Aspekte ihrer Theorie. Alber, Freiburg, München, S. 97-121.
Vogel, C. (1982) Charles Darwins Werk über die Abstammung des Menschen. In: Darwin C. (1982, 4. Auflage) Die Abstammung des Menschen. Mit einer Einführung von Christian Vogel. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart. S. VII-XLII.

05.11.2010

Wissenschaftstheoretische und ethische Aspekte der evolutionären Anthropologie

Diesen wunderbaren Titel hat ein Seminar, dass ich in diesem Semester besuche. Ich habe schon immer ein gewisses Interesse an den eher philosophisch relevanten Aspekten der Anthropologie aber auch der Naturwissenschaften im Allgemeinen gehabt, allerdings waren meine Auseinandersetzungen mit diesen Geschichten bislang eher hobbymäßiger Natur.

Da ich mich jetzt aber regelmäßig auf die Veranstaltungen vorbereiten muss und auch ein Referat zu halten habe, will ich diese Gelegenheit nutzen und in nächster Zeit etwas über bestimmte Aspekte, die in dem Seminar angesprochen werden, berichten. Den Anfang mache ich morgen mit einem kleinen Text über die Begriffe "Teleonomie und Teleologie".



P.S.: Ich werde am kommenden Dienstag einen Vortrag von Ullrich Kutschera mit dem furchtbaren Titel "Tatsache Evolution: Was Darwin noch nicht wusste" besuchen. Wer mir sagen kann, was an dem Titel so furchtbar ist, darf sich ob seines scharfen Verstandes auf die Schulter klopfen.